Von Michael Otto Denzin

FRANKFURT (Dow Jones)--Eine volatile Handelswoche dürfte Anlegern bevorstehen. Selten haben soviele Belastungsfaktoren auf einmal auf die Aktien-, Renten- und Devisenmärkte in Europa eingewirkt. Von steigender Inflation und Zinserhöhungen allerorten, Energiekrise in Deutschland, Ukraine-Krieg, Regierungskrise in Italien, Rezessionsangst, Einbruch des Euro-Kurses unter Parität zum US-Dollar, ist alles dabei. Eine Besserung ist nicht vor Donnerstag, dem 21. Juli, in Sicht. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird dann die erste Zinserhöhung seit 9 Jahren vornehmen und Russland -hoffentlich - wieder Gas liefern. Zwei Risiko-Events an nur einem Tag könnten die Börsen schnell überfordern.


   Nur Probleme und keine Lösungen aus Europa - Euro leidet 

Krisen sind für die Börsen kein Problem, solange der Glaube an die Problemlösungsfähigkeit der Beteiligten vorhanden ist - was für Europa immer weniger gilt. Eine zwischen Inflationsbekämpfung und Finanzierung Südeuropas getriebene EZB auf der einen Seite, und gleichzeitig Europas größter Volkswirtschaft Deutschland mit seinen massiven Energieproblemen auf der anderen Seite, verbreiten Skepsis und Verunsicherung, wohin man schaut. Dazu kommt, dass Europa mittlerweile an einem siebten Sanktionspaket gegen Russland arbeitet, nachdem man sich mit den sechs Paketen davor bereits auch selbst schon einigen Schaden zugefügt hat.

Ein einfacher und schneller Weg aus der Gasversorgungskrise scheint derzeit kaum in Sicht, bislang behilft man sich in Deutschland mit Sparappellen wie kürzerem Duschen, höher eingestellten Klimaanlagen im Sommer und niedrigeren Raumtemperaturen im Winter und versucht, alternative Gasquellen zu erschließen, was aber dauern wird. Dazu kommt die jüngste Politkrise in Italien als Belastunhgsfaktor. Der DAX rutschte darauf mit Zeichen von Panik und Kapitalflucht aus Europa zeitweilig unter die 12.500er-Marke und der Euro fiel bis auf 0,9952 Dollar.

"Die EZB ist mit ihrem zögerlichen Handeln eine der Hauptverantwortlichen der Währungsschwäche", kommentiert Thomas Gitzel, Chef-Ökonom der VP Bank. Während die US-Notenbank im Kampf gegen die hohen Teuerungsraten kräftig an der Zinsschraube drehe, sei die EZB "noch immer im Bummelzug unterwegs". "An den Devisenmärkten verliert die EZB deshalb an Vertrauen", warnt er. Darüber hinaus fürchten internationale Anleger auch eine ernsthafte Energiekrise in Europa, was ebenfalls auf dem Euro lastet.


   Berichtssaison interessant - Analysten mit "Zufallszahlen" 

Für die Industrie ist der Euro-Sturz ein Albtraum, denn Kalkulationssicherheit steht hier an erster Stelle. Das Preisgefüge wird aber bereits ständig durch die Kosteninflation verzerrt; nun kommt auch noch eine Devisen-Unsicherheit hinzu, die Absicherungskosten erzeugt und die Gewinne belastet. Dass Analysten meinen, die künftigen Gewinne von Aktienunternehmen vor dem Hintergrund unsicherer Kosten, unsicheren Absatzes, unsicherer Wechselkurse, etc. präzise schätzen zu können, wird von Strategen als "mutig" bezeichnet.

"Mehr als genau hinhören, wie die Unternehmen ihre eigene Lage einschätzen, kann man diese Berichtssaison nicht", sagt ein Stratege. Der Blick auf die Konsensschätzungen mache keinen Sinn, dies seien "mehr oder weniger Zufallszahlen". Wie groß der Hebel bei einer Multiplikation von Risikofaktoren ist, zeigte eine negative Studie von Bernstein zum Industrie-Sektor: Die Analysten gehen von fallenden Gewinnen von rund 6 Prozent aus, während die Aktienbewertung zudem um 20 Prozent tiefer erwartet wird. Dieser Doppelschlag aus schlechten Nachrichten führt dazu, dass sie ihre Kursziele für die Aktien der Branche sogar 35 Prozent tiefer erwarten.


   Donnerstag ist D-Day - EZB und Gas 

Für Beruhigung am Markt könnten zwei Faktoren sorgen: EZB und Gas. Da beide Entscheidungen am 21. Juli anstehen, dürften es bis dahin volatile Tage geben. Wenn Russland die Gaslieferungen nach dem Ende der Wartung von Nordstream 1 wieder aufnimmt, dürfte zumindest die Sorge vor Gas-Sanktionen gegen die deutsche Industrie ausgepreist werden.

Dazu kommt die EZB-Sitzung mit einer erwarteten Zinserhöhung um 25 Basispunkte. Angesichts der weltweiten Zinserhöhungsrally und einer Inflation im Euroraum um 8 Prozent ist das aber reine Kosmetik: Andere Zentralbanken auf der Welt wie die Philippinen erhöhten im Wochenverlauf um 75 Basispunkte und Kanada sogar um 100 Basispunkte. Übrigens, mit einer für Europa interessanten Begründung bei der Notenbank der Philippinen: Der Schritt sei nötig gewesen, da die Inflation "über 4 Prozent" gesprungen sei.

Die Schere bei den Zinsdifferenzen zwischen dem Euro und dem Rest-der-Welt geht damit immer weiter auf. Gleichzeitig höhlt die Inflation seinen Inneren Wert immer weiter aus.


   EZB in der Zwickmühle - Draghi mit Entscheidungshilfe durch Italien-Krise 

Für Michael Winkler, Leiter Anlagestrategie bei der St.Galler Kantonalbank Deutschland, vermittelt die EZB momentan ein trauriges Bild der Ratlosigkeit, wobei ihr Dilemma immer offensichtlicher werde: Eine inflationsbekämpfende Zinserhöhung könne nicht durchgeführt werden, ohne hochverschuldete Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland im Sinne einer "Eurokrise 2.0" in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen.

Die neue Regierungskrise in Italien sei daher genau zur rechten Zeit gekommen, heißt es am Markt. Kurzfristig habe sie zwar Sorgen geschürt, längerfristig sorge sie aber dafür, dass die EZB nicht einmal verbal aggressiv gegen Inflation vorgehen könne.

"Gerade rechtzeitig" vor der EZB-Entscheidung, habe Italiens Regierungschef Draghi die Situation eskalieren lassen, meinen die Zins-Experten der Commerzbank. Auch im Handel wurde vermerkt, dass Draghi als ehemaliger Investment-Banker und EZB-Chef wohl ziemlich genau gewusst haben dürfte, was sein Rücktrittsgesuch an den Anleihemärkten bewirke. Er habe "mit dem Zaunpfahl gewunken".


   EZB-Instrument zur Zins-Kontrolle wichtiger als Zins 

Während Deutschland für zehnjährige Schulden 1,115 Prozent bezahlt, werden für Italien 3,143 Prozent verlangt. Da die EZB Zinserhöhungen nicht ganz vermeiden kann, setzen die Märkte auf ein Instrument der "Spread-Kontrolle", also einer Zinsbegrenzung für Italien nach oben.

Dieses Instrument sei dringend notwendig, meint Aman Bansal, Zinsstratege der Citi. Denn angesichts der Risiken seien Italiens Anleihen noch immer teuer. Es gebe Spielraum für eine noch höhere Ausweitung der Zinsdifferenz zu Bundesanleihen.

Die EZB-Aussagen zur Zins-Kontrolle dazu dürften daher den Takt für die folgenden Wochen an den Märkten vorgeben. Als Problem sehen Marktteilnehmer, dass es bisher keine klare Definition dafür gebe. Die EZB spricht von "fundamental ungerechtfertigten" Spread-Aufschlägen, hat aber nicht quantifiziert, wie man diese messen will. "Hier besteht ein großes Überraschungspotenzial bei der Ankündigung", sagte ein Händler.

Ulrike Kastens, Volkswirtin für Europa beim Vermögensverwalter DWS meint dazu, die EZB habe hohe Erwartungen geschürt, die sie nun erfüllen müsste. Wie bei bisherigen Programmen dürften Geld- und Fiskalpolitik vermischt werden. Strenge Auflagen und Regeln seien nicht mehr zu erwarten. Zur Zinserhöhung sagt Kastens: Angesichts der extrem hohen Inflationsraten sei dies "eine zögerliche Reaktion".

Möglicherweise gelingt es der EZB, die Märkte positiv zu stimmen. Doch wetten wollen Anleger darauf nicht: Die Erholungsrally im DAX ist wieder in sich zusammengefallen, die Abwärtsdynamik hoch. Chart-Stratege Jörg Scherer von HSBC Trinkaus blickt auf die Unterstützung bei 12.390 Punkten. Sollte sie brechen, wäre der Weg bis 11.450 Punkte offen.

Kontakt zum Autor: maerkte.de@dowjones.com

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July 15, 2022 07:03 ET (11:03 GMT)