Von Herbert Rude

FRANKFURT (Dow Jones)--Die Chancen für eine weitere Rally-Woche am deutschen Aktienmarkt sind gut: Der DAX ist mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von etwa 12 günstig bewertet, die langen Renditen sind zuletzt sogar wieder etwas zurückgekommen, und die kurzen Zinsen sind so niedrig wie eh und je in den vergangenen Jahren. Eine Leitzinserhöhung in der Eurozone ist erst für Ende Juli eingeplant.

Die günstige Bewertung und das aufgehellte Umfeld treffen auf eine deutliche verbesserte technische Lage: Der DAX hat den Abwärtstrend überwunden und mit dem Anstieg über die letzten Zwischen-Hochs auch die negative Serie fallender Hochpunkte beendet. Von daher deutet die Charttechnik nun einen Anstieg an die nächsten Widerstände bei 14.600 Punkten an, danach käme mit der Zone 14.800 bis 15.050 Punkte der Dreh- und Angel-Bereich sämtlicher charttechnischer Überlegungen ins Spiel. Denn oberhalb würde der DAX wieder in die Seitwärtspanne des vergangenen Jahres zurückkehren.

Aufgehellt hat sich die Lage auch in den USA mit dem Ende einer der längsten Baisse-Strecken aller Zeiten: Nach 8 Minus-Wochen in Folge steht der Dow Jones endlich vor einem positiven Wochenschluss. Die US-Notenbank hat mit dem jüngsten Sitzungsprotokoll die Ängste erst einmal beseitigt, dass sie bei der geldpolitischen Straffung überziehen könnte. Dieser Impuls hat den Markt in einer technisch überverkauften Situation getroffen, deshalb ist nun auch der US-Markt reif für eine längere Erholung.

"Für den größten Knalleffekt sorgt aber eine andere Beobachtung: 12 Monate nach einer solchen Negativserie lag der S&P-500 stets im Plus - im Durchschnitt sogar über 30 Prozent", so die Analysten von HSBC Trinkaus. Dagegen warnt Jim Reid von der Deutschen Bank, die Märkte dürften in 12 bis 18 Monaten unter den aktuellen Kursniveaus stehen. Er hält eine Rezession im kommenden Jahr für wahrscheinlich.


   Bei einer Lohn-Preis-Spirale kehrt die Angst vor starken Zinserhöhungen zurück 

Aktuell ist zwar wenig in Sicht, was die Rally-Stimmung an den Aktienmärkten stören könnte. Auch auf der Inflationsseite gibt es erste Entspannungssignale: So sind die Gaspreise wieder deutlich gefallen, und die Öffnung in Schanghai verringert die Lieferkettenprobleme.

Und trotzdem bleibt die Inflation das Damoklesschwert über den Märkten. Neue Daten gibt es schon am Montag und am Dienstag, und die Prognosen zeigen weiter in die falsche Richtung: In Deutschland dürfte die Inflationsrate im Mai auf 8 Prozent gestiegen sein von 7,8 Prozent im April. "Die Preise sind im Mai gerade im Lebensmittelbereich stark gestiegen - daher dürfte die Inflation weder für Deutschland noch für die Eurozone insgesamt nachgelassen haben", warnt Robert Greil von Merck Fink.

Je länger aber die Inflation hoch bleibt, desto größer wird die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, und mit einer solchen dürfte auch die Angst vor starken Zinserhöhungen wieder zunehmen. "Sollten sich die Inflationsraten im Herbst nicht abschwächen, würde das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale steigen - weil dann in Richtung Winter höhere Lohnabschlüsse wahrscheinlicher werden, und das nicht nur in Branchen wie der deutschen chemischen Industrie, die ihre Verhandlungen aufgrund der Unsicherheit bis dahin ausgesetzt hat", merkt Greil an.

"Eine stark ausgeprägte Lohn-Preis-Spirale dürfte Notenbanken dazu veranlassen, eine restriktivere Zinspolitik zu beschließen, wodurch sich der Gegenwind für die Konjunktur sowie die Finanzmärkte erhöht. Sollten die Zweitrundeneffekte jedoch schwach ausfallen, sodass die Inflationsraten schneller als erwartet zu ihren Zielwerten zurückkehren, dürfte an den Kapitalmärkten aufgeatmet werden", so die Analysten und Volkswirte um Carsten Klude von Warburg.

Und erste Hinweise stimmen bedenklich: Zum 1. Juli erhöht sich der Mindestlohn von 9,82 Euro je Stunde auf 10,45 Euro - ein Anstieg um 6,4 Prozent. Ab dem 1. Oktober ist dann eine weitere Erhöhung auf 12 Euro geplant. Laut der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di profitieren davon 8,6 Millionen Menschen - das entspricht rund 19 Prozent aller Beschäftigten. Das sind keine guten Vorzeichen für die anstehenden Tarifrunden und damit auch kein gutes Zeichen, dass eine Lohn-Preis-Spirale noch vermieden werden kann. Damit sollte - Statistik hin oder her - das Szenario von Jim Reid ernst genommen werden.

Kontakt zum Autor: maerkte.de@dowjones.com

DJG/hru/ros

(END) Dow Jones Newswires

May 27, 2022 06:03 ET (10:03 GMT)