Von Manuel Priego-Thimmel

FRANKFURT (Dow Jones)--Die Börsen haben sich in den vergangenen Tagen von den Tiefs deutlich gelöst. Auslöser war ein Einbruch der Rohstoffpreise, was die Inflationserwartungen an den Märkten gedrückt hat. Niedrigere Inflationserwartungen könnten eine weniger aggressivere Vorgehensweise der Notenbanken zur Folge haben, womit auch die Rezessionsrisiken nachließen. So weit die Marktlogik. Diese Rechnung dürfte aber nicht aufgehen. Ein plötzlicher Stopp der russischen Gaslieferungen schwebt weiter wie ein Damoklesschwert über dem Markt.

Der Bloomberg-Rohstoff-Preisindex hat seit seinem Hochpunkt im Frühjahr bereits mehr als 20 Prozent verloren. Das sind zunächst gute Nachrichten, drückt dies doch auf die Inflationserwartungen und damit auf den Handlungsdruck der Zentralbanken. Inzwischen preist der Markt für Ende 2023 laut der Commerzbank ein US-Leitzinsniveau von 2,6 Prozent ein, während es im Mitte Juni noch 3,2 Prozent waren. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit einer notenbankinduzierten Rezession, was positiv für die Börsen ist.


   Rohstoffpreise sind wegen aufziehender Rezessionswolken gefallen 

Das Problem an dieser Entwicklung ist, dass die Rohstoffpreise ja nur gefallen sind wegen aufziehender Rezessionswolken. Preist der Markt nun geringere Rezessionsrisiken ist, dürften die Rohstoffpreise sehr bald wieder steigen. Dann stiegen aber zugleich wieder die Rezessionsrisiken - ein Teufelskreislauf. Und genau das scheint zu passieren, wie der seit Tagen wieder anziehende Gaspreis nahelegt. Auch andere Rohstoffpreise ziehen wieder an. Damit dürften auch die Inflationserwartungen schon bald wieder steigen.

Hinzu kommt, dass sich die zuletzt gefallenen Inflationserwartungen noch nicht in den eigentlichen Inflationszahlen widerspiegeln. Die am kommenden Mittwoch anstehenden US-Verbraucherpreise dürften auf ein neues 40-Jahreshoch von 8,8 Prozent gestiegen sein. "Schon mehrfach sah es so aus, als ob die US-Inflation ihren Gipfel erreicht hätte - und dann stieg sie dennoch weiter", mahnt die Commerzbank an. So habe sich Benzin im Juni gegenüber Mai um 11 Prozent verteuert, und auch die Preise für andere Energieträger wie Erdgas und Strom sollten kräftig zugelegt haben.


   Russisches Gas-Risiko ist unkalkulierbar 

Das bleibt nicht ohne Folgen für den Konsum, was die am kommenden Freitag anstehenden US-Einzelhandelsdaten für Juni zeigen dürften. Die Commerzbank rechnet mit einem Plus von 1 Prozent, "wofür aber weitgehend die höheren Preise, insbesondere an den Tankstellen, verantwortlich sind". Dies alles spricht dafür, dass die zuletzt am Markt gefallenen Inflationserwartungen schon bald wieder anziehen werden - mit den entsprechend negativen Konsequenzen für die Börsen.

Vollkommen unkalkulierbar ist derweil das Risiko, dass Russland die Gas-Lieferungen nach Europa ohne Ankündigung stoppt. Das würde eine schwere Rezession auslösen und die Börsen ins Chaos stürzen. Am Montag beginnen die jährlichen Wartungsarbeiten an der Pipeline Nord Stream 1, die in der Regel 10 Tage andauern. "Bleibt der Gashahn länger zugedreht, würde ein dauerhaften Lieferstopp wahrscheinlicher. Dann stände Deutschland vor einem gravierenden Engpass bei Erdgas", so die Commerzbank.


   Erholungsrally dürfte sich als Bärenmarktrally erweisen 

Ein Risiko für die Börsen stellt auch die gerade beginnende Berichtssaison für das zweite Quartal dar. Strategen sind sich weitgehend einig, dass die Marktschätzungen für die Unternehmensgewinne im laufenden Jahr zu hoch sind. Revisionen würden zusätzlichen Druck auf die Märkte ausüben. Bislang haben kaum Unternehmen vorläufige Zahlen vorgelegt, was von Beobachtern eher als negatives Signal gewertet wird, da die Konzerne vor allem bei einem günstigem Geschäftsverlauf die Öffentlichkeit vorzeitig informieren.

Die jüngste Erholungsrally an den Börsen könnte sich also schon bald als Bärenmarktrally erweisen. Um die Inflation nachhaltig aus der Wirtschaft und den Erwartungen zu vertreiben, wird ein halbherziges Vorgehen der Zentralbanken kaum ausreichen. Die Inflation unter Kontrolle zu bringen, wird mit Schmerzen verbunden sein, vermutlich einer Rezession. Eine solche ist bislang an den Märkten nicht eingepreist. Ein wankelmütiges Vorgehen der Notenbank birgt die Gefahr, dass sich die Inflation weiter einnistet. Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.

Kontakt zum Autor: manuel.priego-thimmel@wsj.com

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July 08, 2022 07:41 ET (11:41 GMT)