TOKIO (dpa-AFX) - Fast dreieinhalb Jahrzehnte nach dem Platzen der Immobilien- und Börsenblase hat sich der japanische Aktienmarkt zu neuen Höhen aufgeschwungen. Grundsätzlich getrieben vom schwachen Yen, der Hoffnung auf Wirtschaftswachstum und auf höhere Renditen für Anleger stieg der Leitindex Nikkei 225 am Donnerstag bis auf knapp 39 157 Punkte und schloss nur wenig tiefer. Mit der Fortsetzung seiner monatelangen Rally knackte er seine alte Bestmarke von Ende 1989.
Den aktuellen Kursschub für den Nikkei erklärten Börsianer mit guten Nachrichten aus den USA: Der Boom beim Einsatz Künstlicher Intelligenz sorgt weiterhin für explosives Wachstum beim Chipkonzern Nvidia. Dies beflügelte die Technologiewerte Japans und die Börsen weltweit.
Dass die japanische Wirtschaft aktuell unter einem eher schwachen Binnenkonsum leidet, fällt für viele Investoren nicht ins Gewicht. Denn diese ist stark exportorientiert. Zudem setzten Experten auf ein Wachstum des Tourismus aus den vielen aufstrebenden Volkswirtschaften Südostasiens.
"Japanische Unternehmen stehen unter dem Druck sowohl von ausländischen als auch von inländischen Investoren sowie von Regierung und Finanzmarktaufsicht, mehr Kapital an die Aktionäre auszuschütten", begründet Portfoliomanager Arnout van Rijn vom Vermögensverwalter Robeco einen speziellen Aspekt der Rally der Tokioter Börse.
Die Anleger setzen darauf, dass Japan Lehren aus dem spektakulären Platzen der Immobilien- und Aktienmarktblase 1990 gezogen hat. Diesem Crash vorausgegangen war eine Goldgräberstimmung an der Börse in Tokio ab Mitte der 1980er-Jahre. Staatliche Investitionen und sehr billiges Notenbankgeld hatten einen künstlichen Aufschwung entfacht, der sich von den Fundamentaldaten der Unternehmen entkoppelt hatte. Binnen eines halben Jahrzehnts vervierfachte sich der Stand des Nikkei.
Doch der Boom bis Anfang der neunziger Jahre war auf Sand gebaut: Banken saßen auf faulen Krediten, Unternehmen mussten Mitarbeiter entlassen, und Verbraucher waren zum Sparen gezwungen. Der Nikkei rauschte nach dem Platzen der Blase von fast 39 000 bis auf rund 14 300 Punkte im Sommer 1992 in die Tiefe. Es folgte eine verhängnisvolle Spirale aus Deflation und Wirtschaftsschwäche. So wurden die Jahre zwischen 1990 und 2010 zu den zwei "verlorenen Jahrzehnten" für Japan.
Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen und Investitionen anzukurbeln, entschied sich die Notenbank für eine extrem lockere Geldpolitik, an der sie bis heute festhält. Doch die strukturellen Wirtschaftsprobleme blieben lange und wurden erst ab 2012 unter Premierminister Shinzo Abe so richtig angegangen.
Ein wichtiger Bestandteil des nach ihm benannten Wirtschaftsprogramm "Abenomics" war - neben weiterhin riesigen staatlichen Konjunkturprogrammen - die Ausweitung der Grundsätze guter Unternehmensführung (Corporate Governance), sodass der Nikkei 2013 eine jahrelange Erholung startete.
Die Nachfolger von Abe führten dessen Reformagenda fort und widmeten sich auch dem Problem der Überkreuzbeteiligungen der Unternehmen. Mit diesen Maßnahmen wollten sich die Konzernlenker gegen unliebsame Einflussnahme von außen abschotten.
Eine Maßnahme des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie zielt nun darauf ab, die Umstrukturierung von Unternehmen zu fördern und Übernahmen zu erleichtern, bemerkt Masahiko Komatsu. Der Experte ist beim Vermögensverwalter Nikko Asset Management mitverantwortlich für nachhaltige Investments in dem Land.
Doch auch die Unternehmen selber engagieren sich inzwischen von sich aus stärker im Sinne der Anleger: "Die gezielte Auseinandersetzung mit Corporate-Governance-Praktiken hat in Japan vor zehn Jahren im Rahmen der 'Abenomics' begonnen und ist 2023 durch eine Initiative der Tokioter Börse (TSE) neu belebt worden", sagt June-Yon Kim, Portfoliomanager bei Lazard Asset Management. Die Initiative der TSE ermuntere Unternehmen, sich auf das Management der Kapitalkosten und die Kapitaleffizienz zu konzentrieren, und schaffe damit die Grundlage für eine nachhaltige Wertsteigerung.
Thomas Page-Lecuyer, Investmentspezialist des französischen Vermögensverwalters Ofi Invest, resümiert: "Die in Japan angestoßenen Unternehmensreformen haben die Konzerne wettbewerbsfähiger und profitabler gemacht." Die nun wieder höheren Gewinne könnten in Form von Dividenden ausgeschüttet oder in Aktienrückkäufe gesteckt werden.
Mittlerweile blicken viele Experten positiv auf die wirtschaftliche Entwicklung Japans. Ein Risikofaktor wäre Page-Lecuyer zufolge allerdings eine Aufwertung des Yen gegenüber dem US-Dollar. Sollte die US-Notenbank in diesem Jahr - wie erwartet - die Zinsen senken und die Bank of Japan den Leitzins angesichts einer anziehenden Inflation doch noch erhöhen, dürfte der Yen zulegen. Je nach Ausmaß würde das dann die Exporte des Landes verteuern. Aus Branchensicht könnte das vor allem die klassischen Industriebetriebe treffen, die traditionell einen Großteil ihres Geschäfts im Ausland machen.
Anleger sollten auch die geopolitischen Risiken im Blick behalten, warnt Page-Lecuyer. Dies gelte weltweit sowie im asiatisch-pazifischen Raum. Die globalen Unwägbarkeiten könnten die Dynamik der japanischen Wirtschaft negativ beeinträchtigen.
Laut dem Ofi-Experten könnten indes aus Branchensicht japanische Unternehmen aus dem Freizeitbereich gefragt sein. Schließlich werde ein Tourismusrekord erwartet, da viele Asiaten aus der aufstrebenden Mittelklasse das Land besuchen dürften. Das sollte die zuletzt schwächelnde Binnenwirtschaft ankurbeln./la/bek/mis
--- Von Lutz Alexander, dpa-AFX ---