Von Dylan Tokar und Paul J. Davies

NEW YORK (Dow Jones)--James Freis hatte sich seine Aufgabe beim inzwischen insolventen und zerlegten Bezahldienstleister Wirecard anders vorgestellt. Als er zustimmte, die Rechts- und Compliance-Funktionen zu übernehmen, sah er darin eine Chance, einem schnell wachsenden Fintech-Startup zu einem geordneten Management zu verhelfen. Stattdessen fand er sich in einer komplizierten Zwickmühle gefangen.

Freis sollte eigentlich am 1. Juli in den Vorstand des deutschen Zahlungsabwicklers eintreten, aber er wurde früher - nämlich bereits am 18. Juni - ernannt. Zu jenem Zeitpunkt verkündete Wirecard, dass 2 Milliarden Dollar nicht aufspürbar sind. Da die Wirtschaftsprüfer von Wirecard sich weigerten, die Geschäftszahlen des Unternehmens zu bestätigen, wurde Freis gebeten, der Sache auf den Grund zu gehen.


 
Frühzeitig gab es Warnsignale 
 

Freis kam zu dem Schluss, den andere seiner Meinung nach schon viel früher hätten ziehen sollen: Das hochfliegende Fintech-Unternehmen war in einen massiven Betrug verwickelt. "So viele Leute hätten aufstehen und etwas sagen können und sollen", sagte Freis in einem Interview mit dem Wall Street Journal. Das war eines der wenigen, die er seit seinem Rücktritt von seinen letzten Aufgaben bei dem Unternehmen im Dezember gegeben hat.

Über Wirecard, einst Liebling der deutschen Tech-Branche, kursierten seit Jahren Medienberichte über angebliche Unregelmäßigkeiten in der Buchhaltung. Als Freis seinen Job antrat, wusste er von den Berichten und von der Skepsis einer kleinen Gruppe von Investoren gegenüber dem Unternehmen. Aber erst an seinem ersten Arbeitstag, als er Zugang zu internen Dokumenten erhielt, wurde ihm klar, dass die Probleme des Unternehmens weitaus größer waren, als die größten Skeptiker es sich vorgestellt hatten.


 
Mit Treuhandkonten konnte etwas nicht stimmen 
 

Bei Durchsicht der Wirecard-Finanzen in einem Hotelzimmer außerhalb Münchens entdeckte Freis, dass etwas mit den Behauptungen des Unternehmens nicht stimmen konnte, mehr als 2 Milliarden Dollar lägen auf Treuhandkonten auf den Philippinen. "Ich kam schnell zu dem Schluss, dass hier ein Betrug vorlag, aber es handelte sich um internen Betrug", sagte er. Es bedurfte keiner besonderen Expertise, um zu diesem Schluss zu kommen, fügte er hinzu.

Am nächsten Tag rief Freis frühmorgens Thomas Eichelmann an - den Aufsichtsratsvorsitzenden von Wirecard. Er wollte ihm seine Erkenntnisse mitteilen. In einer Dringlichkeitssitzung am selben Tag entließ der Aufsichtsrat den langjährigen Vorstandsvorsitzenden Markus Braun und beauftragte Freis, die Unternehmensführung zu übernehmen.


 
Braun bleibt in Untersuchungshaft 
 

Es war der Beginn eines rasanten Ablaufs von Ereignissen sowohl für Wirecard als auch für Freis, einem Amerikaner, der zuvor als Geschäftsführer der Deutschen Börse und als Leiter der Anti-Geldwäsche-Aufsichtsbehörde des US-Finanzministeriums tätig war. Innerhalb weniger Tage meldete das Dax-Unternehmen Insolvenz an, das einst mit fast 24 Milliarden Euro bewertet wurde.

Die Staatsanwaltschaft München untersucht momentan, ob mehrere frühere Wirecard-Führungskräfte in Fehlverhalten verwickelt waren, das von Bilanzmanipulationen bis zur Geldwäsche reicht. Die Staatsanwaltschaft vermutet, dass Braun, der frühere Chief Operating Officer Jan Marsalek und andere sich abgesprochen hatten, um die Ergebnisse des Unternehmens künstlich aufzubauschen, indem sie jahrelang gefälschte Einnahmen verbuchten. Derweil wird auch gegen den ehemaligen Wirecard-Chefbuchhalter Stephan von Erffa und Oliver Bellenhaus, den ehemaligen Leiter eines der in Dubai ansässigen Wirecard-Geschäfte, ermittelt. Braun, von Erffa und Bellenhaus sind seit Juli in Untersuchungshaft. Marsalek ist zwar auf freiem Fuß, wird aber fieberhaft von Interpol als einem der meistgesuchten Personen verfolgt.


 
Kaum Kontrolle über Geschäfte von Wirecard 
 

Die Anwälte von Braun, Marsalek und Ley lehnten eine Stellungnahme ab. Die Anwälte Erffas und Bellenhaus' reagierten nicht auf Bitten um eine Stellungnahme. Braun bestreitet bisher ein Fehlverhalten.

Das Geschäft von Wirecard, das sich auf die Erhebung von Gebühren für die Abwicklung von Kreditkarten- und Online-Zahlungen im Auftrag anderer Unternehmen konzentrierte, war zu Beginn weitgehend unreguliert. Als es eine gewisse Größe erreicht hatte und Finanzdienstleistungen in mehreren Ländern anbot, benötigte das Unternehmen eine neue Art von Management- und Kontrollstruktur, sagte Freis. Das Unternehmen umriss im Mai 2020 eine Reihe von Änderungen in seiner Managementstruktur, als es die Nominierung von Freis für einen Sitz im Vorstand bekannt gab.

Freis glaubte, dass er die notwendige Unterstützung erhalten würde, um einen echten Wandel im Unternehmen herbeizuführen. Zu seinen Aufgaben gehörte die Sicherung von Banklizenzen für die Gruppe in Ländern wie den USA. Die gesamte strategische Ausrichtung sei eben das Problem gewesen. Doch statt einer Kursänderung musste Freis nun die Abwicklung Wirecards orchestrieren. Das Unternehmen sah sich mit einer revolvierenden Kreditlinie in Höhe von 1,3 Milliarden Dollar konfrontiert, die kurz nach seiner Ernennung zum CEO fällig wurde. In Zusammenarbeit mit dem Aufsichtsrat entschied Freis schließlich, dass Wirecard Insolvenz anmelden sollte, was am 25. Juni, eine Woche nach seinem Amtsantritt, geschah.

Ein von einem deutschen Gericht bestellter Verwalter hat seitdem eine Reihe von Geschäftsbereichen der Gruppe verkauft, darunter Töchter in den USA, Großbritannien und Brasilien. Zugleich versucht er, möglichst viel Konkursmasse für Kreditgeber und Anleihegläubiger aufzubringen, denen laut dem Bericht des Verwalters Wirecard etwa 3 Milliarden Euro schuldet. Die Mitglieder des Aufsichtsrates, darunter auch Eichelmann, sind im August zurückgetreten.


 
Freis sah sich als Fels in der Brandung 
 

Zu Beginn des Insolvenzverfahrens hatte Freis eine Rolle dabei gespielt, dem strauchelnden Unternehmen zu helfen, so viel Wert und Arbeitsplätze zu erhalten, wie unter den gegebenen Umständen möglich. Er leitete auch das Tagesgeschäft des Unternehmens und versuchte, nervöse Mitarbeiter zu beruhigen, berichtet Andrea Farace, die im vergangenen Jahr von Wirecard als Leiterin einer Bankdienstleistungsgruppe rekrutiert wurde und später dabei helfen sollte, die verschiedenen Vermögenswerte und Geschäftseinheiten zu verkaufen. "Jim hat eine bewundernswerte Arbeit geleistet und versucht, das Haus zusammenzuhalten", schwärmte Farace.

Die Rolle von Freis im Unternehmen engte sich im September ein, nachdem der Insolvenzverwalter die Verträge der Vorstandsmitglieder des Unternehmens gekündigt hatte. Ein Vertreter des Insolvenzverwalters von Wirecard lehnte eine Stellungnahme ab.


 
Auch ohne viel Erfahrung Probleme glasklar zu sehen 
 

Freis brachte ein Vierteljahrhundert Erfahrung im Bereich Regulierung und Bankwesen für seine Aufgabe mit, aber auch jemand mit weniger Erfahrung hätte erkennen müssen, dass die Finanzen des Unternehmens überbewertet waren, konstatiert er. "Viele andere hätten hier Anzeichen sehen müssen, die - offen gesagt - nicht plausibel und nicht tolerierbar waren." Das schließe sowohl die internen Kontrollfunktionen als auch externe Wirtschaftsprüfer und Rechtsberater ein.

Ehemalige Mitglieder des inzwischen aufgelösten Wirecard-Aufsichtsrats lehnten eine Stellungnahme mit Verweis auf Vertraulichkeitsverpflichtungen oder laufende Ermittlungen ab. Andere Top-Manager, die für die Finanzen, die internen Kontrollen und die Rechtsangelegenheiten des Unternehmens verantwortlich waren, reagierten nicht auf Anfragen nach einem Kommentar.


 
Ernst & Young steht am Pranger 
 

In den Tagen nach seiner Ernennung zum Vorstandsvorsitzenden untersuchte Freis die Wirecard-Finanzen und kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich eine Reihe von anderen Betrügereien innerhalb des Unternehmens gegeben hatte, bei denen Vermögenswerte in Höhe von etwa 1 Milliarde Dollar veruntreut wurden. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt nach eigenen Angaben wegen möglicher Veruntreuungen durch Wirecard, auch im Zusammenhang mit früheren Übernahmen des Unternehmens.

Gegen die deutsche Tochter von Ernst & Young, ermittelt die Staatsanwaltschaft München im Rahmen der Wirecard-Untersuchung. Die Firma war seit 2008 der Wirtschaftsprüfer des Konzerns. Sunny Tucker, ein Sprecher von EY Deutschland, beteuerte, dass die Firma bei den Ermittlungen gegen Wirecard kooperiere und dass EY Deutschland keine Kenntnis von einem illegalen Verhalten im Namen der Firma habe. In Deutschland, wo der Skandal manchmal mit dem Zusammenbruch des US-Energieunternehmens Enron im Jahr 2001 verglichen wird, sind Beamte derzeit dabei, rechtliche und regulatorische Umstrukturierungen auszuloten, die ein ähnliches Debakel in der Zukunft verhindern sollen.


 
BaFin muss sich neu erfinden 
 

Gesetzgeber haben die deutsche Finanzaufsichtsbehörde BaFin und die Aufsichtsbehörde für Rechnungslegung, Apas, kritisiert, da sie nicht früher auf schrillende Alarmglocken reagiert haben, einschließlich der Nutzung von externen Offshore-Treuhandkonten durch Wirecard, auf denen angeblich große Teile des Vermögens der Gruppe liegen sollen. Dominika Kula, eine Sprecherin der BaFin, lehnte eine Stellungnahme ab. Apas teilte mit, dass die Ermittlungen gegen die Wirtschaftsprüfer von Wirecard noch andauern.

(MORE TO FOLLOW) Dow Jones Newswires

February 08, 2021 08:51 ET (13:51 GMT)