BERLIN (dpa-AFX) - Wie konnte der Betrugsskandal bei Wirecard mit Tausenden von geprellten Anlegern passieren, haben staatliche Stellen versagt - und mauert die Bundesregierung bei der Aufklärung? Das sind die zentralen Fragen zur Rolle der Politik im Wirecard-Skandal. Unter Druck steht vor allem Finanzminister Olaf Scholz, der mögliche SPD-Kanzlerkandidat. Der Fall Wirecard könnte das politische Berlin noch lange beschäftigen - denn ein Untersuchungsausschusses als "schärfstes Schwert" der Opposition rückt immer näher.

Entscheiden sollte sich dies auch nach einer Sondersitzung des Finanzausschusses am Mittwoch. Pünktlich um 16.00 Uhr kommt Scholz in den Saal, mit dabei eine dicke Aktentasche. Draußen geben Oppositionspolitiker noch Statements für die vielen Kamerateams ab und fordern eine umfassende Aufklärung. Scholz ist nach außen hin gewohnt ruhig und gelassen, er hält einen kurzen Plausch mit seinem Staatssekretär Jörg Kukies.

Schon am Morgen hat Scholz die Linie vorgegeben. Im ZDF-"Morgenmagazin" präsentiert er sich als oberster Aufklärer: "Es gibt nur eine einzige Vorgehensweise: Voran, nichts verbergen, aktiv an der Spitze der Aufklärung stehen und dafür zu sorgen, dass alle Sachen geklärt werden." Der Finanzminister hat einen Aktionsplan vorgelegt, damit sich ein Fall Wirecard möglichst nicht wiederholt.

Aber ob das ausreicht? Im Februar 2019 wurde Scholz darüber unterrichtet, dass die Finanzaufsicht Bafin den Fall Wirecard wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Verbot der Marktmanipulation untersuche. Und Kukies traf sich im November 2019 mit Wirecard-Chef Markus Braun zu einem persönlichen Gespräch - an Brauns Geburtstag. Hätten Scholz und Kukies energischer auf Aufklärung drängen sollen?

Gegen Braun und andere frühere Führungskräfte wurde inzwischen Haftbefehl ausgestellt. Der mittlerweile insolvente Zahlungsdienstleister hatte im Juni Luftbuchungen von 1,9 Milliarden Euro eingeräumt. Die Münchner Staatsanwaltschaft geht mittlerweile von einem "gewerbsmäßigen Bandenbetrug" aus, und zwar seit 2015. Mehr als drei Milliarden Euro könnten verloren sein.

Die Aktie stürzte ab, das traf viele Anleger des Dax-Konzerns, es dürfte Tausende von Klagen geben. Der Skandal habe sich über Jahre unter dem Radar der Finanzaufsicht Bafin abgespielt, sagte der FDP-Finanzpolitiker Florian Toncar. Die Bafin ist dem Finanzministerium unterstellt. "Alle Sicherungsnetze haben versagt, der Aufsichtsrat, die Wirtschaftsprüfer und die staatliche Aufsicht." Der CSU-Finanzpolitiker Hans Michelbach kritisierte, der Schutzmechanismus des Staates habe nicht funktioniert. Dies habe einen immensen Schaden für den Finanzplatz Deutschland verursacht.

Als problematisch sehen viele Abgeordnete auch enge Beziehungen von Wirecard in die Politik an. Berater für das Unternehmen waren der ehemalige Beauftragte für die Nachrichtendienste des Bundes, Klaus-Dieter Fritsche, sowie Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, die auch Gespräche im Kanzleramt führten.

Das Pikante: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte auf einer China-Reise im September 2019 das Thema einer geplanten Übernahme des chinesischen Unternehmens AllScore Financial durch Wirecard angesprochen. Merkel aber habe zum Zeitpunkt der Reise "keine Kenntnis von möglichen schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten bei Wirecard" gehabt, hatte ein Sprecher gesagt.

Das Kanzleramt war am Mittwoch bei der Sondersitzung des Finanzausschusses nicht vertreten - weswegen weitere Sitzungen auch in der Sommerpause wahrscheinlich sind. Und auch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss rückt näher. Toncar sagte, die Opposition werde möglicherweise mit den bisherigen Methoden nicht weiter kommen, sondern in die Akten schauen und Zeugen vernehmen müssen. Die Linke ist für einen U-Ausschuss: "Der Wirecard-Skandal stinkt, und die politischen Verbindungen müssen ausgeleuchtet werden", sagte Fraktionsvize Fabio De Masi.

Für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses muss im Bundestag ein Viertel der Abgeordneten stimmen. FDP, Grüne und Linke würden das Quorum zusammen erreichen. Die Grünen aber zögern noch. Denn bis ein U-Ausschuss die Arbeit aufnehmen könnte, vergeht viel Zeit, möglicherweise bis November - und das Ende der Legislaturperiode im Herbst 2021 naht. Und hätte ein Untersuchungsausschusses vor allem das Ziel, den potenziellen SPD-Kanzlerkandidaten Scholz in den Negativ-Schlagzeilen zu halten?

Die SPD versucht, den Blick weg von Scholz und auf Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zu lenken, der nach dem Finanzminister zu Gast im Finanzausschuss war. "Wirecard ist vor allem ein Skandal der Wirtschaftsprüfer", sagte die SPD-Finanzpolitikerin Cansel Kiziltepe. Altmaier müsse "raus aus der Deckung" und erklären, wieso die Aufsicht der Wirtschaftsprüfer nicht eingeschritten sei.

Ein großes Wirtschaftsprüfungsunternehmen hatte für die Wirecard-Jahresabschlüsse von 2009 bis 2018 jeweils einen uneingeschränkten Bestätigungsvermerk erteilt. Manipulationen wurden nicht erkannt. Das Wirtschaftsministerium verwies darauf, die Abschlussprüferaufsichtsstelle sei eine unabhängige berufsrechtliche Aufsicht über Wirtschaftsprüfer - Regelungen für die Wirtschaftsprüfer und die Anforderungen an die Prüfungen lägen in der Zuständigkeit des SPD-geführten Justizministeriums.

Unter Druck gerät im Fall Wirecard zunehmend auch der Chef der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin), Felix Hufeld. Wie der "Spiegel" berichtete, machte Hufeld in einer Sitzung des Finanzausschusses Anfang Juli wahrheitswidrige Behauptungen, dabei geht es um Verbindungen im Fall Wirecard mit Singapur. Die Bafin wies den Vorwurf zurück - räumte aber ein, einige Aussagen Hufelds seien "unpräzise" gewesen./hoe/DP/fba