Von Pierre Briançon

LONDON (Dow Jones)--Europa wird von einer vierten Corona-Welle heimgesucht. Dies dürfte den wirtschaftlichen Aufschwung weiter ausbremsen. Im Moment ist es trotzdem unwahrscheinlich, dass die von den politischen Entscheidungsträgern ergriffenen Maßnahmen so streng sein müssen wie 2020, als sie die Wirtschaft um 6 Prozent schrumpfen ließen. Das erklärt, warum Wirtschaftsexperten nicht mit so verheerenden Auswirkungen wie in den ersten Monaten der Covid-19-Pandemie rechnen. Aber auch wenn es kaum Zweifel an den Folgen gibt, so bleibt doch das wahre Ausmaß dieser möglichen Auswirkungen ungewiss.

Österreich hat bisher die radikalsten Maßnahmen ergriffen und einen landesweiten Lockdown verhängt, bei der alle Geschäfte mit Ausnahme derjenigen, die Waren des täglichen Bedarfs verkaufen, schließen müssen. Allerdings entfallen auf Österreich nur weniger als 3 Prozent des EU-Bruttoinlandsprodukts (BIP). Andere Regierungen sind nicht so radikal vorgegangen, da die gesundheitliche Situation von Land zu Land unterschiedlich ist - denn die Stärke des neuen Ausbruchs hängt mit dem Tempo und der Akzeptanz der Impfungen auf dem gesamten Kontinent zusammen.


   Deutsche und Österreicher sind Impfmuffel 

Deutschland als größte Wirtschaftsmacht Europas steht vor einer "hochdramatischen Situation", so die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel, die neue, landesweite Beschränkungen gefordert hat. Bislang haben nur einige Bundesländer damit begonnen, der vierten Welle entgegenzuwirken. Merkels Erklärung setzte die europäischen Aktien zu Wochenauftakt unter Druck.

Die drei anderen großen EU-Mitglieder - Frankreich, Italien und Spanien - haben vorerst von dramatischen Schritten abgesehen. Doch wie Analyst Jim Reid von der Deutschen Bank warnt, gibt es in einer Reihe von weniger stark betroffenen Ländern, darunter Frankreich, Italien und dem nicht mehr zur EU zählenden Großbritannien, immer noch eine steigende Tendenz.

Die Art der Maßnahmen, die selbst diese Regierungen ergreifen müssen, werden daher "von entscheidender Bedeutung sein und große Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Märkte haben", schreibt Reid. Während Österreich und Deutschland zu den Ländern mit den niedrigsten Impfraten in Europa gehören, haben andere Regierungen keinen Grund zur Selbstzufriedenheit.

Die ING-Ökonomen Franziska Biehl und Carsten Brzeski stellen fest, "die vergangenen Jahre hätten gezeigt, dass das Gefühl, 'sicher' zu sein, irreführend sein kann und womöglich schnell von den Ereignissen überholt wird". Weitere Einschränkungen würden "das Risiko einer wirtschaftlichen Stagnation erhöhen, wenn wir in ein neues Jahr gehen".


   Rückkehr zur Haushaltsdisziplin in relativ weiter Ferne 

Die kommenden Auflagen wären naturgemäß weniger streng als während der vorangegangenen Viruswellen, zumindest wenn sie sich nur auf die nicht-geimpfte Bevölkerung beschränken, wie es in Frankreich und Italien der Fall sein könnte. Österreich hat die Impfung (ab Februar) verbindlich vorgeschrieben, aber andere Länder versuchen, das gleiche Ziel mit anderen Mitteln zu erreichen - zum Beispiel, indem sie zu normalen Aktivitäten, wie dem Besuch eines Restaurants oder eines Konzerts, nur Personen zulassen, die einen Impfpass mit sich führen oder genesen sind.

Aber auch Beschränkungen, die sich auf nicht-geimpfte Personen beschränken, haben wirtschaftliche Auswirkungen, da sie die Nachfrage einschränken - zum Beispiel durch ein Reiseverbot für einen Teil der Bevölkerung. "Die Angst vor dem Virus ist deutlich geringer als im vergangenen Jahr, aber die Beschränkungen beeinträchtigen die wirtschaftliche Effizienz - ebenso wie das Wirrwarr an Vorschriften im internationalen Reiseverkehr", schreibt Chefökonom Paul Donovan von der UBS.

Niemand kann im Moment die Auswirkungen der kommenden Beschränkungen auf das Wachstum beziffern. Aber sie dürften eine neue Runde von Problemen für Regierungen und Zentralbanken einläuten. Wenn die Wirtschaft länger braucht, um sich zu erholen, wird die Rückkehr zu einer gewissen Form der Haushaltsdisziplin in den Ländern, die dies in Betracht gezogen haben, verschoben werden müssen.


   Vielleicht Verlängerung der EZB-Corona-Programme 

Bei der Europäischen Zentralbank (EZB) wird die Entscheidung, ob sie ihr pandemiespezifisches Anleihekaufprogramm PEPP im März nächsten Jahres beendet oder nicht, im Schatten der vierten Welle getroffen werden müssen. "Es ist nicht ausgeschlossen, dass dann die vierte Welle ihren Höhepunkt erreicht hat und weitere Länder der Eurozone wieder in die Schranken gewiesen werden", schreibt Brzeski. Das könnte für einige Währungshüter der Eurozone ein Grund sein, trotz steigender Inflation auf eine Verlängerung des Programms zu drängen.

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November 25, 2021 04:30 ET (09:30 GMT)