Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)--Europas Erdgaskrise legt den Finger in die Wunde von Industriestrategien, die sich auf Wladimir Putin verlassen haben. Bei einigen westlichen Regierungen und Unternehmen ist der Groschen aber wohl immer noch nicht gefallen.

Vor kurzem hat die EU ihre Pläne aufgegeben, das russische Unternehmen VSMPO-Avisma in ihre siebte Sanktionsrunde als Reaktion auf den Einmarsch in der Ukraine einzubeziehen. VSMPO ist der weltweit größte Hersteller von Titan, das für den Bau von Flugzeugen unverzichtbar ist, da es robust, korrosionsbeständig und viel leichter als Stahl ist. Fast die Hälfte des weltweiten Titanbedarfs wird in der Luft- und Raumfahrt verwendet.

Die Titanerze Ilmenit und Rutil sind in vielen Ländern verfügbar, aber die Möglichkeiten, sie in Titanschwamm umzuwandeln - seine reinste Form, die zu Legierungen für industrielle Zwecke verarbeitet wird - sind weitaus begrenzter. Nach Angaben von US-Geographen produzierte Russland vor der Pandemie etwa ein Fünftel der weltweiten Vorräte und lag damit an dritter Stelle hinter China und Japan mit jeweils 40 Prozent und 25 Prozent.

China verbraucht jedoch mehr Titan als es produziert. Entscheidend ist, dass VSMPO fertige Titanerzeugnisse zu künstlich niedrigen Preisen verkauft, was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass der Konzern etwa die Hälfte des Titanbedarfs von Airbus deckt. Für Boeing, das ein Joint Venture mit dem Unternehmen betrieb, war es ein Drittel.


  Airbus greift weiterhin bei russischem Titan zu 

Infolgedessen blieb VSMPO von den westlichen Sanktionen außen vor. Dennoch haben sich US-Luftfahrtriesen wie Boeing, Raytheon und General Electric entweder von russischem Titan abgewandt oder dessen Verwendung auf ein Minimum reduziert. Airbus hingegen kauft es weiterhin über nicht sanktionierte Tochtergesellschaften. Der europäische Flugzeughersteller betont, dass es sich hierbei um eine kurzfristige Maßnahme handelt, aber er hat sich lautstark - und erfolgreich - dafür eingesetzt, dass VSMPO nicht auf der Sanktionsliste erscheint.

In einem Interview wies der Vorstandsvorsitzende von Airbus, Guillaume Faury, darauf hin, dass die Auswirkungen von Titansanktionen auf Moskau gering wären. "Diejenigen, die wir sanktionieren würden, wären wir selbst", klagte er. "Was VSMPO betrifft: Wenn sie ihre Lieferungen an die weltweite Luft- und Raumfahrt einstellen, ist das das Ende der Geschichte. Es ist also eine typische Lose-Lose-Situation."

Es stimmt, dass Airbus und andere westliche Hersteller Zeit gewonnen haben, um ihre Lieferketten zu verlagern. Aber es besteht auch das Risiko, dass sich die Bequemlichkeit durchsetzt, wie nach der Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014. Die Luft- und Raumfahrtunternehmen haben seitdem größere Lagerbestände angelegt. Und Airbus berichtet, die Krim-Krise habe es veranlasst, alternative Titanquellen zu finden. Aber eine wirkliche Diversifizierung hat nicht stattgefunden. Die Produktion wird bereits durch die heutige Situation beeinträchtigt. Raytheon-Chef Greg Hayes erklärte vergangene Woche vor Analysten, dass mehrere Hersteller von Geschäftsflugzeugen, die Kunden der kanadischen Tochtergesellschaft von Pratt & Whitney sind, in diesem Jahr ohne Triebwerke dastehen würden.


  Russland muss sich über Mangel an Devisen nicht beklagen 

Und es kommt noch schlimmer. Im Juli hat Moskau einem russischen Titanexporteur den Verkauf an ein führendes westliches Luft- und Raumfahrtunternehmen untersagt, wie Insider berichten. So schädlich dies für VSMPO auch wäre, Putin könnte jederzeit alle Titanexporte stoppen und sie nach China umleiten, wie er es bei Öl getan hat. Selbst wenn dies geringere Einnahmen zur Folge hätte, könnte dies Russland egal sein. Die im vergangenen Monat veröffentlichten Leistungsbilanzdaten für das zweite Quartal deuten darauf hin, dass das Land über mehr Devisen verfügt, als es gebrauchen kann. So legten die Exporte um 20 Prozent zu, während die Importe im Vergleich zum Vorjahr um 22 Prozent schrumpften.

Die Luft- und Raumfahrtindustrie wird es schwer haben, sich aus der Abhängigkeit von autokratischen Regimen zu lösen. Abgesehen von Japan sind die Verbündeten der USA keine Produzenten von Titanschwamm, selbst wenn sie Titanerze exportieren. Der einzige aktive Förderer in den USA selbst ist eine Anlage in Salt Lake City mit einer Kapazität von gerade einmal 500 Tonnen pro Jahr. Das US-Handelsministerium hat wiederholt davor gewarnt, dass der Status quo eine Gefahr für die nationale Sicherheit bedeute.

Russlands fertige Titanprodukte sind noch schwieriger zu ersetzen. Bislang hat sich der Westen bei seinen Autarkie-Bemühungen vor allem auf die Bereiche Energie und Halbleiter konzentriert. Auch Titan ist eine Schwachstelle, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte.

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August 05, 2022 09:57 ET (13:57 GMT)