WOLFSBURG (dpa-AFX) - Der Volkswagen-Konzern hat wie viele Unternehmen mit der Corona-Krise zu kämpfen. Doch das lange Zeit drohende Problem von harten Strafzahlungen wegen zu hoher CO2-Emissionen hat die Pandemie nahezu weggewischt, weil die Nachfrage nach Elektroautos in der Krise auch dank starker Förderung zulegt und ihr Marktanteil rasant steigt. Was bei Volkswagen vor der Hauptversammlung an diesem Mittwoch (30. September) los ist, was Analysten sagen und was der Aktienkurs macht.

DIE LAGE BEI DEN WOLFSBURGERN:

Der Verlust von netto 1,6 Milliarden Euro aus dem zweiten Quartal wiegt schwer in der Bilanz des Autobauers mit den zwölf Fahrzeugmarken. Das dritte Quartal dürfte zwar wieder besser aussehen, weil die flächendeckenden Lockdowns hinter dem Konzern liegen. Doch über den Berg ist die Branche damit noch lange nicht. Angesichts der Lage entschied sich das VW-Management, der Hauptversammlung lieber doch nicht die üppige Erhöhung der Dividende vorzuschlagen, sondern bei der Ausschüttung wie im vergangenen Jahr zu bleiben.

Schwung gibt der wieder besser laufende Markt China. Hier legten die Verkäufe gegenüber den Vorjahresmonaten zuletzt wieder zu. Schon im zweiten Quartal hatten die chinesischen Gemeinschaftsunternehmen ihren anteiligen operativen Gewinn steigern können. In den ersten acht Monaten steht aber dennoch mit weltweit 5,57 Millionen ausgelieferten Fahrzeugen ein sattes Minus von über einem Fünftel zu Buche.

Immerhin kommt die Elektrooffensive des Konzerns gerade jetzt ins Rollen, wo sich die Nachfrage nach Elektroautos plötzlich als stabilisierendes Element erweist. Die Bundesregierung hatte die Förderung von Batterie- und Hybridfahrzeugen nochmals erhöht und zudem auf begrenzte Zeit die Mehrwertsteuer gesenkt. Nun kommt auch der große VW-Hoffnungsträger für das Elektrozeitalter ID.3 endlich zur breiten Kundschaft. Jüngst stellte VW zudem den ID.4 vor, einen Kompakt-SUV, der sich ab Jahresende gegen den derzeitigen Elektroprimus Tesla mit seinem Model Y stellen soll.

Spannend dürfte gerade auch für VW werden, wie Tesla mit der entstehenden Fabrik in Grünheide vor den Toren Berlins auf dem Heimatmarkt des weltgrößten Autobauers agiert. Gerade erst kündigte Tesla-Chef Elon Musk einen Schnäppchen-Tesla an, der für 25 000 Dollar (rund 21 400 Euro) zu haben sein könnte. VW-Konzernchef Herbert Diess hatte einst angekündigt, den Vormarsch der Kalifornier unter der Preismarke von 30 000 Euro stoppen zu wollen.

Aber VW ist nie nur das Tagesgeschäft. Der Dieselbetrug zieht auch fünf Jahre nach dem Auffliegen weiter seine Kreise, jüngst musste VW auch wieder rund 700 Millionen Euro an Sonderkosten dafür verbuchen, weil das Ausräumen der vielen Kundenklagen nach einem ungünstigen BGH-Entscheid jetzt teurer wird. Nun steht die Abgasrechnung bei insgesamt 32 Milliarden Euro. Ex-Chef Martin Winterkorn muss sich vor Gericht mindestens dem Verdacht des gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs stellen, weitere Manager aus der Zeit sind ebenfalls angeklagt.

Zwar hat das aktuelle Führungsduo aus Diess und Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch die Gefahr einer eigenen Anklage mittlerweile auch durch die Zahlung von Geld gebannt. Unbequeme Prozesse aber bleiben den Wolfsburgern erhalten, allein schon das Mammutverfahren nach dem Kapitalanlegermusterverfahrensgesetz (KapMuG), in dem Anleger milliardenschwere Wiedergutmachung wegen angeblich zu später Information der Finanzmärkte einfordern.

Auch darüber hinaus gibt es Ärger: Beim Lkw-Bauer MAN aus der VW-Nutzfahrzeugholding Traton laufen die Arbeitnehmer Sturm gegen die Pläne, bei der MAN Truck & Bus mit 9500 Arbeitsplätzen rund jede vierte Stelle zu streichen. Bei der schwedischen Schwestermarke Scania stehen 5000 Jobs zur Disposition. Schon vor der Corona-Krise war der Ausblick auf den Nutzfahrzeugmärkten konjunkturell mies und VW waren die Kosten zu hoch. Doch die Pandemie hat Auslieferungen und Bestellungen von Trucks noch einmal deutlich schärfer einbrechen lassen.

Das bringt VW aber nicht davon ab, sich in den wichtigen US-Lkw-Markt einkaufen zu wollen. Das Gebot zur Komplettübernahme des US-Truckherstellers Navistar schraubte VW kürzlich auf 3,6 Milliarden Dollar (3,1 Mrd Euro) für die restlichen Anteile hoch - ob es reicht, steht noch in den Sternen.

Immerhin scheint die Personalrochade im oberen Management abgeschlossen. Diess muss nun zeigen, dass er die richtigen Leute ans Ruder gebracht hat - insbesondere der neue Audi-Chef Markus Duesmann hat mit der Konzernverantwortung für Entwicklung, Elektro und Software viel Macht bekommen. Zudem scheint neue Bewegung in das Diess'sche Vorhaben zu kommen, die Konzernstrukturen zu vereinfachen, spekuliert wurde jüngst über einen Verkauf der Luxusmarke Bugatti. Allerdings gab es auf der anderen Seite auch Gerüchte, VW könne den Autovermieter Europcar zurück in den Konzern holen. Die Franzosen sind in der Krise in arge Finanznöte geschlittert.

Ein Grundkonflikt schwelt in Wolfsburg weiter: Der Zwist zwischen Diess und der Arbeitnehmerseite. Nach einem Eklat mit dem Aufsichtsrat musste sich Diess im Sommer öffentlich beim Aufsichtsratspräsidium entschuldigen, dem er strafbare Indiskretionen vorgeworfen hatte. Außerdem musste er die Leitung der Kernmarke VW Pkw an Ralf Brandstätter abgeben.

Bei den beiden wichtigen Modellprojekten ID.3 und Golf 8 hatte die Belegschaft Diess ohnehin angezählt, weil beide Modelle im Hochlauf an Produktions- und Technikproblemen litten. Laut der Arbeitnehmerseite wollte Diess zu viel neue Technik in die Autos packen. Dass der Betriebsrat um den mächtigen Chef Bernd Osterloh in Wolfsburg ein gehöriges Wörtchen mitspricht, ist nicht neu - Diess fremdelt aber immer wieder mit der Kultur bei den Niedersachsen.

DAS SAGEN DIE ANALYSTEN:

Elektro-Fahrzeuge seien jetzt auf der Überholspur, schrieb UBS-Analyst Patrick Hummel kürzlich. Und VW habe hier die konsistenteste Strategie. Marktanteile sollten zulegen und es sollte auch einen positiven Effekt auf den Gewinn je Aktie haben. Der Experte erwartet sich von den neuen Elektromodellen mit hoher Stückzahl bei Erfolg auch eine Neubewertung der Aktien. Bereits 2022 oder spätestens 2023 könne VW bei den rein batteriebetriebenen Fahrzeugen im Konzern die Schwelle von einer Millionen Stück erreichen. Die Margen der Elektromodelle dürften ab 2023/24 auf Augenhöhe mit den Verbrennern liegen.

Arndt Ellinghorst von Bernstein Research hingegen empfiehlt den Verkauf der Aktien und stellt sich damit nach eigenem Empfinden gegen die Mehrheitsmeinung. Die Anleger, die die Aktie hielten, machten dies wegen der als überlegen angesehenen Elektroplattformstrategie. Er warnte jedoch davor, VW nur anhand seiner Elektroplattformen zu beurteilen. Ohne einen mutigen und fokussierten Umbau des übermäßig komplexen und teuren traditionellen Verbrennergeschäfts berge der Wandel hin zur Elektrowelt viele Risiken.

Komplexität und Kosten dürften bei VW in Zukunft eher noch zunehmen, so Ellinghorst. Der isolierte Blick auf die batterieelektrischen Plattformen im Konzern könnte eine oberflächliche Illusion von Größenvorteilen schaffen. Volkswagen werde zudem nicht der einzige Hersteller sein, der Batterieautos für den Massenmarkt anbietet - und die Konkurrenz habe viele Produkte mit ähnlichen, wenn nicht besseren Reichweiten zu guten Preisen im Programm.

Die britische Investmentbank Barclays hat ihr Kursziel für die Vorzugsaktien zwar zuletzt von 214 auf 155 Euro gesenkt, blieb aber angesichts des verbliebenen Kurspotenzials weiter auf "Kaufen". Er sehe im Umbau des Topmanagements einen wichtigen Meilenstein für weitere Kostensenkungen, schrieb Erwann Dagorne. Darüber hinaus gewännen die Offensiven in China und mit elektrischen Antrieben deutlich an Fahrt, was die Stimmung der Anleger verbessern sollte.

Von den 16 im dpa-AFX-Analyser erfassten Analysten, die sich seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie zur Aktie geäußert haben, raten zehn zum Kauf der Papiere, vier zum Halten und zwei zum Verkauf. Das durchschnittliche Kursziel liegt bei knapp 159 Euro. Aktuell kostet die Vorzugsaktie rund 133 Euro.

SO LIEF DIE AKTIE ZULETZT:

Das im Dax notierte Papier büßte seit Jahresanfang fast ein Viertel seines Werts ein und ist damit der schwächste Wert unter den deutschen Autobauern. Seit dem Corona-Crash, der die Aktienmärkte am 24. Februar erstmals mit voller Wucht erfasst hat, hat das Papier fast 20 Prozent verloren - und damit deutlich mehr als der deutsche Leitindex und als die Vorzugsaktien von BMW, die jeweils rund acht Prozent nachgaben. Daimler-Anteile legten in dem Zeitraum sogar leicht zu.

Im Tief rutschte der Kurs der VW-Vorzugspapiere bei unter 80 Euro sogar deutlich unter das Dieselkrisentief von gut 86 Euro im Herbst 2015. Bei aktuellen Kursen von rund 133 Euro haben die VW-Aktionäre nach der Erholung in ihrem Depot zwar wieder mehr stehen. Die mühsamen Zugewinne seit dem Ausbruch der Dieselaffäre um manipulierte Motorensoftware sind aber größtenteils mit der Corona-Krise wieder dahin. Das Hoch aus dem Frühjahr 2015 bei über 260 Euro ist in noch viel weitere Ferne gerückt.

Damit ist das von Diess ausgerufene Ziel, den Marktwert des Konzerns an die Marke von 200 Milliarden Euro heranzuführen, bislang nur ein Wunschtraum der Anleger. Vielmehr fokussieren sich die großen Profi-Investoren im Autobereich derzeit eher auf Tesla . Der Elektroautopionier aus Kalifornien hat zuletzt bereits bewiesen, dass er mit den Batterieautos Geld verdienen kann. Der Nachweis darüber steht im großen Stil bei VW noch aus.

Volkswagen ist an der Börse derzeit etwas mehr als 70 Milliarden Euro wert, zusammen mit Daimler (rund 47 Mrd) und BMW (rund 38 Mrd) kommen die drei großen deutschen Autokonzerne auf 155 Milliarden Euro Marktkapitalisierung.

Zum Vergleich: Der US-Elektroautopionier Tesla bringt es nach einer beispiellosen Rally in den vergangenen Monaten derzeit auf 380 Milliarden US-Dollar oder umgerechnet knapp 327 Milliarden Euro - und damit mehr als doppelt so viel. Auch die Japaner von Toyota stehen in der Gunst der Anleger weit besser: 23 Billionen Yen entsprechen rund 188 Milliarden Euro./men/eas/zb