Von Jon Sindreu

CHICAGO (Dow Jones)--Ein dunkles Kapitel in der Geschichte von Boeing kann endlich geschlossen werden. Die Moral ist, dass das Geschäft am besten funktioniert, wenn Finanzen und Technologie in kreativer Spannung stehen.

Am Mittwoch erteilte die US-Luftfahrtbehörde der Boeing 737 MAX die Wiederzulassung für Passagierflüge. Mehr als 20 Monate lang war der Problemjet aus dem Verkehr gezogen. Die Aktien des Unternehmens stiegen zunächst, gaben aber später wieder nach, weil sich viele Anleger für Gewinnmitnahmen entschieden. Dennoch hat die Aktie im November 45 Prozent zugelegt.

Der Flugzeugbauer steht nun vor der großen Herausforderung, jene 450 Maschinen auszuliefern, die auf Halde stehen. Boeings CEO David Calhoun musste eingestehen, dass der ursprüngliche Plan, einen Großteil der Flugzeuge innerhalb eines Jahres loszuwerden, von der Covid-19-Krise überholt wurde. Dies wiederum gefährdet die geplanten Produktionsraten der 737 MAX.

Was können Anleger und Analysten aus diesem Fiasko lernen, nachdem die Branchenführerschaft zum europäischen Rivalen Airbus wechselte?

Zunächst einmal erwies sich der erste Eindruck im Jahr 2019, wonach die Flugzeugabstürze mit dem Jet nur einen kleinen Rückschlag für Boeing bedeuteten, als falsch. Es wurde nicht bedacht, dass die Luftfahrtindustrie unvorhersehbaren Katastrophen besonders ausgesetzt ist. Covid-19 ist das jüngste Beispiel. Zuvor waren es die Terroranschläge vom 11. September 2001.

Es wurde auch übersehen, dass die Unfälle mit der 737 MAX Zeichen tiefsitzender Probleme waren. Termin- und Kostendruck hatten über die Vernunft der Ingenieure gesiegt. Behörden wie die Federal Aviation Administration (FAA) ließen die gebotene Aufsicht in gefährlicher Weise vermissen.

Aber auch Untergangspropheten, die behaupteten, die MAX würde nie wieder abheben, lagen falsch. Viele Analysten waren nicht einverstanden mit der Entscheidung, die 53 Jahre alte 737 nur zu verändern, anstatt ein völlig neues Modell auf den Markt zu bringen. Finanzielle Überlegungen hätten dabei zu sehr im Vordergrund gestanden, so die Kritik.

Ob es alleine daran lag, darf bezweifelt werden. Das Programm zum Bau der MAX startete im Jahr 2011 und hatte vielmehr mit übertriebener Eile zu tun: Airbus war plötzlich mit dem überarbeiteten A320neo herausgekommen. American Airlines machte Druck und zwang Boeing, schnell darauf zu reagieren.

Dennoch hätte die MAX dazu beitragen können, die Herausforderung zumindest vorläufig zu bewältigen - vor allem wenn gleichzeitig die zusätzlichen Ressourcen für einen neuen mittelgroßen Jet bereitgestellt worden wären. Hier aber richtete eine Kultur, bei der das Erreichen von Zielen Vorrang vor der Sicherheit hatte, echten Schaden an: Sie hat die Produktion eines fehlerhaften Flugzeugs beschleunigt. Dabei geht es gar nicht mal so sehr darum, ob es sich um ein von Grund auf neuentwickeltes oder nur um ein überarbeitetes Flugzeug handelte: Die Besessenheit, die Entwicklungskosten zu senken, plagte auch Projekte wie den mittlerweile erfolgreichen 787 Dreamliner und rückte ein dringend benötigtes, neues mittelgroßes Flugzeug in weite Ferne.

Ein übermäßiger Fokus auf die Entwicklung neuer Technologien kann jedoch auch problematisch sein. In den späten 1960er Jahren setzten Lockheed Martin und McDonnell Douglas auf große dreistrahlige Flugzeuge. Aerodynamiker waren begeistert, doch der Markt zeigte die kalte Schulter. Beide Flugzeugbauer zogen sich schließlich aus dem Geschäft mit Verkehrsflugzeugen zurück. Ein weiteres Beispiel ist der erfolglose "Superjumbo" Airbus A380. Die Lehre für Boeing aus Chicago ist, dass finanzielle und technische Überlegungen im Einklang stehen müssen.

Die 737 MAX wird bei den Kunden ankommen, auch wenn sie der Airbus-Konkurrenz hinterherhinkt. Es wäre ein Fehler des verschuldeten Unternehmens Boeing, sich zu sehr zu verbiegen, um diesen Vorsprung in Frage zu stellen. Gleichzeitig muss das Unternehmen seinen technischen Fokus wiedererlangen, um auf die Mitte der 2030er Jahre blicken zu können: Das revolutionäre Potenzial von Hybrid- oder gar Wasserstoffantrieben fordert die Luftfahrtindustrie heraus. Boeing wird ein neues Modell brauchen, das die Konkurrenz sowohl auf Kurz- als auch auf Mittelstrecken schlägt.

Boeings jüngste Geschichte war geprägt von Kämpfen zwischen den Ingenieuren in Seattle und den Betriebswirten in Chicago. Es ist Zeit, dass beide Seiten endlich zueinander finden.

DJG/DJN/rer/jhe

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November 19, 2020 03:31 ET (08:31 GMT)