Von Rochelle Toplensky

LONDON (Dow Jones)--Die Botschaft von Shell, wonach die Energiebranche höchst unsicheren Zeiten entgegengeht, ist vor allem an Politiker und Verbraucher gerichtet. Doch besonders hellhörig reagieren nur die Anleger. Hohe Rohstoffpreise und kriegsbedingte Volatilität verhalfen dem Unternehmen im ersten Quartal zu einem Rekord-Nettogewinn und einem operativen Cashflow von 14,8 Milliarden US-Dollar. Shell baute Schulden ab, erhöhte die Dividenden und steigerte die Erwartungen für die Aktionärsrenditen in diesem Jahr. Die Aktie legte im europäischen Handel um 3,8 Prozent zu. Wegen der großen Gewinnsteigerung droht dem Unternehmen in Großbritannien nun sogar eine einmalige Sondersteuer, auch Windfall-Steuer genannt.

In der Telefonkonferenz mit Journalisten am Donnerstag betonte Shell seine Rolle bei der Gewährleistung der Energiesicherheit und berichtete von Plänen, in den nächsten zehn Jahren bis zu 25 Milliarden Pfund in Großbritannien zu investieren, hauptsächlich in kohlenstoffarme Energie. Der Vorstandsvorsitzende Ben van Beurden versuchte aber auch, die Erwartungen an die künftige Leistung des Unternehmens zu dämpfen. Dieses Quartal sei in Anbetracht der Preisentwicklung wahrscheinlich das schwierigste für eine Vorhersage. "Das Einzige, was ich mit hinreichender Gewissheit sagen kann, ist, dass es ein steiniger Weg sein wird", so van Beurden.

Trotz der Warnungen und Ausgabenversprechen haben die Rekordgewinne von Shell und BP den öffentlichen Druck auf die britische Regierung erhöht, von der Industrie einen Beitrag zu fordern, da die Haushalte mit steigenden Energierechnungen, hohen Preisen an den Zapfsäulen und einer allgemeinen Kosteninflation zu kämpfen haben. Bislang hat sich die konservative Regierung von Boris Johnson den Forderungen der Opposition nach einer einmaligen Abgabe widersetzt, aber der britische Premierminister ist auch bekannt für populistische Entscheidungen, und es gibt Präzedenzfälle für diese Art von Steuer im Vereinigten Königreich.


   Trübere Aussichten 

Mit seiner Einschätzung, dass die Aussichten trübe sind, hat van Beurden Recht. Der Krieg in der Ukraine hat zu einer Eskalation der Sanktionen gegen Russland geführt, zu denen zuletzt auch ein mögliches EU-Ölembargo gehörte. Auf der anderen Seite drohen Vergeltungsmaßnahmen aus Moskau. Was auch immer geschieht, die globalen Versorgungswege für Öl und Gas verschieben sich, da Europa bemüht ist, sich von russischer Energie zu lösen. Das Thema Energiesicherheit ist in der Öffentlichkeit in den Vordergrund gerückt, was einige dazu veranlasst, das Tempo der Energiewende in Frage zu stellen. Außerdem gibt es zwei Unwägbarkeiten: Covid-bedingte Lockdowns in China, die die Nachfrage stark beeinflussen können, und daneben noch die geringe Chance, dass die OPEC ihr Angebot erhöht.

Alles in allem ist die Unsicherheit groß, doch die meisten Faktoren wirken sich preistreibend bei Öl und Gas aus. Der grüne Wandel wird die Nachfrage in nächster Zeit wahrscheinlich nicht sehr verändern, wobei das Tempo der Energiewende unterschiedlich ausfallen dürfte: Europa wird wohl seine Anstrengungen erhöhen, während die Länder mit Öl- und Gasreserven möglicherweise langsamer werden. Ein entscheidender Faktor ist, dass die börsennotierten Produzenten weiterhin eine ernsthafte Kapitaldisziplin an den Tag legen und trotz steigender Preise und der Aufforderung von Politikern, mehr zu bohren, Rückkäufen und dem Abbau von Schulden Vorrang einräumen. All dies führt zu unsicheren und unbeständigen Aussichten, die aber insgesamt auf enge Märkte und relativ hohe Preise hinauslaufen.

Das sollten eigentlich gute Nachrichten für die Branche sein, aber die Anleger sind nicht optimistisch. Dem Kurs der Shell-Aktie liegt ein Unternehmenswert des 3,7-fachen Gewinns vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen zugrunde. Das ist am unteren Ende der historischen Spanne. Die Anleger scheinen mit van Beurden darin übereinzustimmen, dass das derzeitige Gewinnniveau nicht zu halten sein wird, doch die Politik und die breite Öffentlichkeit denken noch nicht so weit voraus.

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May 06, 2022 03:19 ET (07:19 GMT)