Referat

Sperrfrist

11. Oktober 2022, 18.45 Uhr

Aktuelle Herausforderungen für die Unabhängigkeit von Zentralbanken

Annual O. John Olcay Lecture on Ethics and Economics am Peterson Institute

Thomas J. Jordan*

Präsident des Direktoriums Schweizerische Nationalbank Washington, 11. Oktober 2022

© Schweizerische Nationalbank (Referat auf Englisch)

  • Der Referent dankt Samuel Reynard für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Textes. Sein Dank geht auch an Claudia Aebersold, Simone Auer, Petra Gerlach, Christian Grisse, Carlos Lenz, Alexander Perruchoud, Michael Schäfer, Tanja Zehnder und den Sprachendienst der SNB.

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Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich sehr, die diesjährige O. John Olcay Lecture on Ethics and Economics halten zu dürfen. John Olcay war eine bemerkenswerte Persönlichkeit und ein echter Gentleman. Er verfügte über ein aussergewöhnlich tiefgreifendes Verständnis von Politik, Wirtschaft und Märkten, und er war stets gewillt und erfreut, eine Vielfalt von Themen zu diskutieren. John war auch ein Freund von mir und ein treuer Unterstützer der Schweizerischen Nationalbank. Es ist mir eine grosse Ehre und Freude, dieses Referat heute in seinem Gedenken zu halten.

Eigentlich hätte der Vortrag 2020 stattfinden sollen, musste dann aber wegen der Pandemie verschoben werden. Damals, vor nur zwei Jahren, hofften viele Zentralbanken auf einen leichten Anstieg der Teuerung in die Nähe ihrer Inflationsziele, und es gab Rufe nach einer direkten Finanzierung von Fiskalausgaben durch die Zentralbanken. Seither haben sich das politische und das wirtschaftliche Umfeld dramatisch verändert. Die Inflation ist fast überall zu hoch, und die Zentralbanken heben ihre Leitzinsen in einer Zeit hoher Staatsverschuldung an. Mancherorts wird die Unabhängigkeit der Zentralbanken öffentlich infrage gestellt.

Solch expliziter Druck, die Unabhängigkeit von Zentralbanken einzuschränken, ist ein eher junges Phänomen. In den letzten Jahrzehnten manifestierte er sich nicht. Im Gegenteil: In Wirtschaft, Politik und Öffentlichkeit herrschte ein starker Konsens über die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von Zentralbanken. Dieser Konsens stützte sich nicht nur auf die Theorie, sondern auch auf praktische Erfahrung. Preisstabilität kann nur durch eine unabhängige Geldpolitik erreicht werden, d.h. ohne politischen Druck auf die Zentralbank.

Sind Zentralbanken nicht unabhängig, könnten Regierungen zwecks Sicherung der eigenen Wiederwahl verleitet sein, auf eine expansive Geldpolitik hinzuwirken. Dies, um die Kosten der Staatsverschuldung vorübergehend zu senken und die Konjunktur anzukurbeln. Mit der Zeit würde dies unweigerlich zu hoher Inflation führen. Ohne Unabhängigkeit könnten zudem verschiedene politische Gruppierungen der Zentralbank zusätzliche Ziele aufzwingen. Die Folgen wären Zielkonflikte und schliesslich Zweifel an der Fähigkeit oder Bereitschaft der Zentralbank, Preisstabilität zu gewährleisten. Was im Hinblick auf solche Zielkonflikte ebenso wichtig ist: Verfolgen Zentralbanken andere Ziele als Preisstabilität, ist es ein Leichtes, die Legitimität ihrer Unabhängigkeit infrage zu stellen. Genau aus diesem Grund haben unabhängige Zentralbanken ein enges Mandat erhalten.

Ich werde in diesem Referat ausführen, dass Gefahren für die Unabhängigkeit der Zentralbanken - und damit für ihre Fähigkeit, ihr geldpolitisches Mandat zu erfüllen - stets vorhanden sind und in unterschiedlicher Form auftreten. Während einige offensichtlich sind, lauern andere unter der Oberfläche. Im aktuellen wirtschaftlichen Umfeld sind solche Gefahren besonders akut. Aus Schweizer Sicht werde ich erläutern, welche Fallstricke zu meiden sind, um die unabhängige Festlegung der Geldpolitik zu garantieren und sicherzustellen, dass Zentralbanken frei einen geldpolitischen Kurs verfolgen können, der mittel- bis langfristig Preisstabilität gewährleistet.

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Abgrenzung der Massnahmen von Zentralbanken gegenüber der Fiskalpolitik

Zunächst gehe ich auf die Notwendigkeit ein, Massnahmen der Zentralbanken von der Fiskalpolitik abzugrenzen. Geld- und fiskalpolitische Instanzen treffen ihre Entscheide üblicherweise getrennt, d.h. ohne gegenseitige Absprache. Und dies aus gutem Grund. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Sind Zentralbanken eng mit den Fiskalbehörden verbunden, wird eine expansive Geldpolitik oft zur Finanzierung von Staatsdefiziten eingesetzt. Dies endete ein ums andere Mal in hoher Inflation.

Eine hohe Inflation ist aus vielen Gründen unerwünscht. Sie reduziert die Kaufkraft der Konsumentinnen und Konsumenten und trifft einkommensschwache Haushalte besonders stark. Zudem führt Inflation zu Preisverzerrungen und dadurch zu einer Fehlallokation von Ressourcen und zu Ineffizienz. Da eine erhöhte Inflation meist auch mit einer erhöhten Volatilität der Inflation einhergeht, löst dies Investitionsunsicherheit und steigende Risikoprämien aus. Hat die Inflation erst einmal ein hohes Niveau erreicht, kann es sehr teuer werden, sie zu bekämpfen.

Aus all diesen Gründen haben Zentralbanken den Auftrag, Preisstabilität zu gewährleisten. Dies schliesst in der Regel auch mit ein, die Konjunktur zu unterstützen. In der Schweiz ist die Nationalbank beauftragt, Preisstabilität zu gewährleisten und dabei der konjunkturellen Entwicklung Rechnung zu tragen. Unser Mandat beschränkt sich also auf den wichtigsten Beitrag, den eine Zentralbank für die Gesellschaft leisten kann. Ausserdem ist die Unabhängigkeit der Schweizerischen Nationalbank in der Bundesverfassung verankert.

Für Zentralbanken ist die Wahrung ihrer Unabhängigkeit entscheidend, damit sie ihren Auftrag erfüllen können. Geht die Öffentlichkeit davon aus, dass die geldpolitische Instanz Entscheidungen mit dem Ziel trifft, die Staatsfinanzen zu unterstützen, erwartet sie als Folge davon eine höhere Inflation. Da sich solche Erwartungen via Lohnverhandlungen und Preisgestaltung massgeblich auf die tatsächliche Inflation auswirken, kann diese rasch ausser Kontrolle geraten. Deshalb ist es wichtig, bereits den Anschein zu vermeiden, dass die Geldpolitik von fiskalischen Überlegungen dominiert sein könnte.

Nichtsdestotrotz ist auch zu beachten, dass unabhängige Zentralbanken die fiskalpolitischen Auswirkungen nicht ignorieren können, wenn sie ihre Geldpolitik in Einklang mit ihrem Mandat festlegen. Die Fiskalpolitik kann sich auf Wachstum, Inflation, Zinssätze und Risikoprämien auswirken. Eine vernünftige Geldpolitik, die auf den Erhalt der Preisstabilität ausgerichtet ist, muss diese Auswirkungen der Fiskalpolitik auf die Volkswirtschaft und auf die monetären Bedingungen berücksichtigen.

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Aussergewöhnliches geld- und fiskalpolitisches Erbe seit der globalen Finanzkrise

Im Folgenden gehe ich kurz auf das aussergewöhnliche geld- und fiskalpolitische Erbe ein, das sich seit der globalen Finanzkrise ergeben hat, sowie auf die Herausforderungen, die sich dadurch heute für die Unabhängigkeit der Zentralbanken stellen.

Nach dem Ausbruch der globalen Finanzkrise senkten viele Zentralbanken ihre Leitzinsen auf ein sehr tiefes Niveau oder - in manchen Ländern wie der Schweiz - gar in den negativen Bereich. Auch brachten sie die längerfristigen Zinssätze zum Sinken, indem sie Staats- und Unternehmensanleihen kauften. Dadurch weiteten sich die Bilanzen der Zentralbanken aus, und die damit verbundenen Risiken stiegen an.

Vor zwei Jahren schränkten die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie die Wirtschaftsaktivitäten stark ein. Sowohl die Fiskalpolitik als auch die Geldpolitik reagierten mit Entschlossenheit: Mittels Sozialleistungen und Konjunkturpaketen halfen die Fiskalbehörden, die Wirtschaft zu stabilisieren. Die historisch beispiellosen fiskalischen Impulse führten in vielen Ländern zu einem massiven Anstieg der bereits zuvor hohen Verschuldung. Durch das Bereitstellen von Liquidität gewährleisteten Zentralbanken das Funktionieren der Märkte, und mit einer lockeren Geldpolitik verfolgten sie zudem das Ziel, die Wirtschaftsaktivitäten zu stabilisieren und eine Deflation zu verhindern.

Für eine wirksame Reaktion auf diese höchst ungewöhnliche Wirtschaftskrise war eine Kooperation zwischen Geld- und Fiskalpolitik notwendig und gerechtfertigt. In gegenseitiger Abstimmung ergriffen die geld- und fiskalpolitischen Instanzen Massnahmen zur Vermeidung einer Kreditklemme, die eine Konkurswelle und massive Arbeitslosigkeit hätte auslösen können. Viele Unternehmen waren von den behördlichen Einschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie besonders stark betroffen. Ziel der koordinierten Massnahmen war es, diesen Unternehmen rasch Zugang zu Kapital zu ermöglichen, und zwar zu günstigen Konditionen. Illiquidität sollte keinesfalls zu Insolvenz führen. In der Schweiz beispielsweise wurde ein gemeinsames Paket mit Massnahmen des Bundes, der Nationalbank und des Privatsektors geschnürt, um Liquiditätsengpässe von Unternehmen zu überbrücken. Dieses Massnahmenpaket zeigte Wirkung: Innerhalb weniger Wochen erhielt ein Fünftel aller Schweizer Unternehmen einen Kredit, um den pandemiebedingten Liquiditätsengpass zu meistern.

Während der Corona-Pandemie waren solche koordinierten Anstrengungen zwischen den fiskal- und geldpolitischen Instanzen notwendig. Und sie waren auch einfach aufeinander abzustimmen, da sich die Fiskal- und die Geldpolitik in dieselbe expansive Richtung bewegen mussten. Jetzt aber müssen die Zentralbanken unmissverständlich signalisieren, dass diese Koordination kein erster Schritt hin zu einer Geldpolitik war, die von fiskalischen Notwendigkeiten dominiert wird. Dies ist aus zwei Gründen wichtig.

Erstens sollte eine solche Kooperation stets zeitlich begrenzt und auf aussergewöhnliche Umstände beschränkt sein. Sie darf nicht mit dem Aufgeben der Unabhängigkeit durch die

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Zentralbank verwechselt werden. Und zweitens hat sich das geopolitische und wirtschaftliche Umfeld inzwischen drastisch verändert. Während die Pandemie anfänglich sowohl den Wirtschaftsaktivitäten als auch der Inflation einen Dämpfer versetzte, begannen bald schon diverse Faktoren, wie Lieferengpässe, Nachholbedarf sowie geld- und fiskalpolitische Impulse, Aufwärtsdruck auf die Preise auszuüben. Der starke Anstieg der Energiepreise, teilweise angeheizt durch den Krieg in der Ukraine, hat die Preise weiter in die Höhe getrieben und gleichzeitig das Wachstum gebremst. Die Geldpolitik muss nun in einem Umfeld hoher Staatsverschuldung gestrafft werden.

Der Grundsatz, wonach Zentralbanken ihre Geldpolitik nicht von fiskalischen Notwendigkeiten dominieren lassen dürfen, ist seit jeher gültig. Aber im aktuellen Umfeld mit hoher Inflation und nachlassender Wirtschaftsaktivität - und mit dem Vermächtnis einer hohen Staatsverschuldung und grosser Zentralbankbilanzen - ist es besonders schwierig, sich an diesen Grundsatz zu halten.

Im Folgenden erläutere ich nun zwei Arten fiskalischer Dominanz, die ich als «missbrauchte» und «fehlgeleitete» Geldpolitik bezeichne. Bei einem Missbrauch der Geldpolitik entscheidet die Zentralbank explizit, die Staatsfinanzen zu unterstützen; eine solche Politik ist Ausdruck eines Mangels an guter und stabiler Governance. Zu einer fehlgeleiteten Geldpolitik kommt es dann, wenn sich Zentralbanken in ihrem Urteil beeinflussen lassen, um Druck seitens der Politik zu vermeiden, was zu geldpolitischen Fehlern zugunsten der Staatsfinanzen führt.

Erstes Risiko für die Unabhängigkeit: ein Missbrauch der Geldpolitik

Ich beginne mit dem Missbrauch der Geldpolitik, der sich auf zwei Arten äussern kann: auf eine offensichtliche und auf eine etwas subtilere. Eine offensichtliche Art der fiskalischen Dominanz läge vor, wenn sich die Zentralbank dazu drängen liesse, den Staat direkt zu finanzieren. So könnte sie etwa aufgefordert werden, die Staatsschulden direkt zu kaufen, was im Wesentlichen einer Finanzierung der öffentlichen Ausgaben über die Notenpresse gleichkäme. Oder noch offensichtlicher: Sie könnte das Geld als «Geschenk» geben - zulasten ihres Eigenkapitals. Die meisten Zentralbankgesetze verbieten jedoch eine solche direkte Finanzierung.

Allerdings hielt dies während der Coronakrise einige Ökonomen nicht davon ab, für eine direkte monetäre Finanzierung von fiskalischen Ausgaben zu plädieren. Meist ging es bei diesen Vorschlägen um eine einmalige Zahlung zur zweckgebundenen Finanzierung bestimmter Staatsausgaben, etwa pandemiebedingter volkswirtschaftlicher Kosten.1 Dies würde jedoch Tür und Tor öffnen für weitere Begehrlichkeiten: Wird die Geldpolitik einmal zur Finanzierung eines fiskalischen Zwecks eingesetzt, lässt die nächste - und die

1 Siehe z.B. Gali, J. (2020), Helicopter money: The time is now, VoxEU, oder Kaufmann, D., A. Rathke und J.-E. Sturm (2020), Was kann die SNB noch tun?, Blog Ökonomenstimme, oder Gersbach, H. und J.-E. Sturm (2020), Ein Schweizfonds mit 100 Mia. Franken als zweiter Pfeiler, Blog Ökonomenstimme.

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SNB - Swiss National Bank published this content on 11 October 2022 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 11 October 2022 16:51:04 UTC.