Konferenzbeitrag

Sperrfrist

27. August 2022, 19.00 Uhr

Geldpolitik unter neuen Rahmenbedingungen: Herausforderungen für die Schweizerische Nationalbank Jackson Hole Economic Policy Symposium:

Reassessing Constraints on the Economy and Policy

Beitrag zum Podium «The Outlook for Policy Post-Pandemic»

Thomas J. Jordan

Präsident des Direktoriums* Schweizerische Nationalbank Jackson Hole, 27. August 2022 © Schweizerische Nationalbank

  • Der Referent dankt Claudia Aebersold, Gregor Bäurle und Christian Grisse für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Textes. Sein Dank geht auch an Petra Gerlach, Carlos Lenz, Alexander Perruchoud, Tanja Zehnder und den Sprachendienst der SNB.

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Das Thema der diesjährigen Jackson-Hole-Konferenz ist die Neubewertung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Nachgang zur Corona-Pandemie und zum russischen Angriff auf die Ukraine. In diesem Podium geht es dabei speziell um den Ausblick für die Geldpolitik. Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Ausgangslage für das Führen der Geldpolitik grundlegend verändert. In den vergangenen Jahren schränkte die effektive Zinsuntergrenze die Zentralbanken ein. Aktuell stellt dagegen der starke Anstieg der Inflation die grosse Herausforderung dar. Längerfristig könnten strukturelle Entwicklungen, wie die Dekarbonisierung der Wirtschaft, die weltweit hohe Staatsverschuldung oder eine mögliche Deglobalisierung, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen prägen und zu erhöhtem Inflationsdruck führen.

In meinem Beitrag blicke ich zuerst auf die Herausforderungen zurück, denen die Zentralbanken, insbesondere auch die Schweizerische Nationalbank (SNB), seit der globalen Finanzkrise begegnen mussten. Danach werde ich die Entwicklungen seit der Pandemie und dem Kriegsausbruch beleuchten. In der zweiten Hälfte werde ich besonders auf die Frage eingehen, warum ein sinnvoll definierter Bereich für die Preisstabilität und ein enges Mandat wichtige Faktoren sind, um längerfristig eine wirksame Geldpolitik in einem sich laufend verändernden Umfeld führen zu können. Dabei werde ich speziell auf die Erfahrungen der SNB zurückgreifen und die für die Schweiz charakteristische Perspektive einer kleinen offenen Volkswirtschaft mit einer wichtigen Währung einnehmen.

I. Nachwehen der globalen Finanzkrise

In den zwei Jahrzehnten vor der globalen Finanzkrise war das Nominalzinsniveau weltweit sukzessive zurückgegangen. Einerseits hatten die erfolgreiche Inflationsbekämpfung der Zentralbanken sowie günstige Produktionsmöglichkeiten als Folge einer zunehmend integrierten Weltwirtschaft zu sinkenden Inflationsraten geführt. Andererseits war das Realzinsniveau in vielen Ländern aufgrund struktureller Faktoren wie dem abnehmenden Produktivitätswachstum und der Alterung der Bevölkerung zurückgegangen.

Als die globale Finanzkrise und der damit einhergehende wirtschaftliche Einbruch eine entschiedene Lockerung der Geldpolitik verlangten, erreichten viele Zentralbanken rasch die Nullzinsgrenze. Um die Geldpolitik in dieser Situation weiterhin angemessen expansiv zu gestalten, mussten danach «unkonventionelle» Massnahmen eingeführt werden.

Auch die Schweiz konnte sich diesen internationalen Entwicklungen nicht entziehen. Als kleine offene Volkswirtschaft war sie im Zuge der Finanzkrise stark vom Einbruch der globalen Nachfrage und den Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten betroffen.

Zusätzlich erschwert wurde die Lage in unserem Land durch einen starken Aufwertungsdruck auf den Schweizer Franken. Die hohe Geschwindigkeit der Aufwertung und die resultierende, zeitweise massive Überbewertung des Frankens verschärften die wirtschaftlichen Herausforderungen und führten zu einer Deflationsgefahr. Zum einen senkte die Aufwertung die globale Nachfrage nach in der Schweiz produzierten Waren und Dienstleistungen. Die

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damit verbundenen negativen Effekte auf die Konjunktur dämpften die Inflation. Zum anderen führte die Aufwertung direkt zu tieferen Preisen von importierten Konsumgütern. Wegen des hohen Importanteils in der Schweiz drückte dies die Inflation zusätzlich.

Zwei Besonderheiten der Schweiz waren für den ausgeprägten Aufwertungsdruck verantwortlich. Erstens bedeutete das traditionell tiefe Schweizer Zinsniveau, dass im internationalen Vergleich weniger Spielraum bis zur effektiven Zinsuntergrenze bestand. Die Zinsen sind in der Schweiz meist tiefer als im Ausland, weil der Franken vor dem Hintergrund der langfristigen politischen, fiskalischen und monetären Stabilität in der Schweiz als sichere Anlage geschätzt wird. Als die Zentralbanken wegen der globalen Finanzkrise die Zinsen deutlich senkten, verringerte sich die Zinsdifferenz zwischen dem Ausland und der Schweiz und machte den Franken vergleichsweise attraktiver. Zweitens gewinnt der Franken wegen seiner Eigenschaft als «sicherer Hafen» bei global eingetrübter Risikostimmung typischerweise an Wert. Dies war während der Finanzkrise und der europäischen Staatsschuldenkrise ausgeprägt der Fall. Aber auch beim Ausbruch der Corona- Pandemie und beim russischen Angriff auf die Ukraine erhöhte die weltweit gestiegene Unsicherheit den Aufwertungsdruck auf den Franken.

Um in dieser Konstellation mittelfristig Preisstabilität zu gewährleisten, griff die Nationalbank zu unkonventionellen Massnahmen. Wir senkten den geldpolitischen Zins deutlich in den negativen Bereich und intervenierten zeitweise umfangreich am Devisenmarkt. Dies führte zu einer starken Ausweitung unserer Bilanz (Abbildung 1). Der Einsatz der Devisenmarktinterventionen war nötig, weil die starke Aufwertung des Frankens eine unmittelbare Quelle des deflationären Drucks in der Schweiz war. Ausserdem war die Möglichkeit von Käufen inländischer Anleihen aufgrund des relativ kleinen Schweizer Kapitalmarkts begrenzt.

Dank der Zinssenkungen bis auf −0,75% und den umfangreichen Devisenmarktinterventionen konnten wir die Preisstabilität auch während diesen schwierigen Jahren gewährleisten. Die Inflation rutschte zwar phasenweise in den negativen Bereich, stieg dann aber jeweils relativ schnell wieder auf positive Werte an. In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte bemerkenswert.

Erstens führten die Phasen negativer Inflation nicht zu einer Entankerung der längerfristigen Inflationserwartungen. Diese blieben stets zwischen 0 und 2%, also dem Bereich, den die SNB mit Preisstabilität gleichsetzt. Abbildung 2 zeigt dies anhand der Inflationserwartungen von Unternehmen in der Schweiz. Zwar zeichneten deren kurzfristige Erwartungen die Entwicklung der Inflation nach. Ihre längerfristigen Inflationserwartungen blieben jedoch auch bei vorübergehend negativer Inflation stabil. Die Unternehmen betrachteten die wiederholten Phasen negativer Inflation jeweils als Einzelereignisse. Obwohl die Inflation über die letzten 15 Jahre im Durchschnitt sehr tief lag, haben die Firmen den Inflationsrückgang nicht als Trend wahrgenommen. Die Unternehmen trauten der SNB offensichtlich zu, mit ihrem entschiedenen Einsatz unkonventioneller Massnahmen einen

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anhaltenden Rückgang des Preisniveaus verhindern zu können. Die Nationalbank konnte ihre geldpolitische Glaubwürdigkeit auch in diesem schwierigen Umfeld erhalten.

Der zweite Punkt betrifft die Anpassungsprozesse nach plötzlichen Aufwertungsschüben des Frankens. Die negative oder sehr tiefe Inflation war nämlich jeweils Teil dieser Anpassungsprozesse. Denn die tiefe Inflation in der Schweiz trug dazu bei, die Überbewertung des Frankens über die Zeit zu reduzieren. So wertete sich der um Preisentwicklungen bereinigte reale Wechselkurs deutlich weniger auf als der nominale Wechselkurs (Abbildung 3). Dies half, die Auswirkungen der nominalen Aufwertung auf die Realwirtschaft zu dämpfen. Die Wirtschaft konnte sich besser als erwartet an ein Umfeld mit tiefen, teils negativen Inflationsraten anpassen.

Auch die Konjunkturentwicklung in der Schweiz war über die letzten 15 Jahre recht erfreulich. Der Arbeitsmarkt blieb insgesamt robust und die Entwicklung des Bruttoinlandprodukts (BIP) schnitt im internationalen Vergleich gut ab (Abbildung 4). In der globalen Finanzkrise und während der Pandemie waren deutliche Rückgänge des BIPs auch hierzulande nicht zu vermeiden. Die Schweizer Wirtschaft kehrte aber jeweils schnell wieder auf einen Wachstumspfad zurück.

Die Nationalbank konnte die Preisstabilität in der durch Deflationsrisiken gekennzeichneten Phase gewährleisten und hat zu einer vergleichsweise robusten Wirtschaftsentwicklung beigetragen. Selbstverständlich widerspiegelt die realwirtschaftliche Entwicklung neben dem Einfluss der Geldpolitik auch strukturelle Faktoren wie die hohe Resilienz der gut diversifizierten Schweizer Wirtschaft und den flexiblen Arbeitsmarkt. Die Unternehmen mussten sich nach den Aufwertungsschüben jeweils mit grossen Anstrengungen an das schwierige Umfeld anpassen, was die Flexibilität und Effizienz der Schweizer Wirtschaft möglicherweise noch erhöhte. Ebenfalls positiv zum Wachstum trug die aufgrund der Zuwanderung wachsende Bevölkerung bei. Und gerade auch in der Pandemie reagierte die Fiskalpolitik rasch und gezielt.

II. Neue Rahmenbedingungen

Die Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Rahmenbedingungen für die Zentralbanken grundlegend verändert. So ist insbesondere die Inflation über das letzte Jahr hinweg in vielen Ländern stark angestiegen. Zudem hat die Unsicherheit in vielerlei Hinsicht deutlich zugenommen.

Auch die SNB ist gegenwärtig mit einer Inflationsrate konfrontiert, die deutlich oberhalb des Bereichs liegt, den sie mit Preisstabilität gleichsetzt. Die Inflation ist bei uns zurzeit, wie schon in den letzten Jahren, zwar tiefer als in vielen anderen Ländern. Neben dem starken Franken half bisher auch der Energiemix in der Schweiz, die Inflation vergleichsweise tief zu halten. Sie liegt jedoch mit aktuell 3,4% auch in der Schweiz auf dem höchsten Niveau seit den 1990er-Jahren.

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Ausserdem gibt es Anzeichen, dass sich die Inflation zunehmend auf Waren und Dienstleistungen ausbreitet, die nicht direkt von den Auswirkungen der Pandemie oder des Kriegs in der Ukraine betroffen sind. Tatsächlich scheinen im heutigen Umfeld Preiserhöhungen rascher weitergegeben und auch einfacher akzeptiert zu werden, als dies noch bis vor kurzem der Fall war. Damit verbunden tendierten auch die längerfristigen Inflationserwartungen in den vergangenen Quartalen leicht nach oben. Zudem gibt es klare Anzeichen, dass die Lohnentwicklung an Dynamik gewinnt.

Wie geht die SNB mit dieser Situation um? Unsere erste Reaktion auf den sich abzeichnenden Inflationsdruck erfolgte bereits in den letzten Monaten von 2021. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Inflation, aber auch unsere damalige Inflationsprognose noch auf einem sehr tiefen Niveau. An der Lagebeurteilung im Dezember kommunizierten wir, dass die SNB eine gewisse nominale Aufwertung des Frankens zulassen würde, um den Inflationsdruck aus dem Ausland zu verringern. Der Franken wertete sich zwischen Herbst 2021 und Frühjahr 2022 nominal um rund 4% auf. Die nominale Aufwertung machte die Importe günstiger und wirkte so dem generellen Preisanstieg entgegen. Im Juni 2022 erhöhten wir dann erstmals seit 15 Jahren den SNB-Leitzins. Mit dem Anstieg um 0,5 Prozentpunkte liegt der SNB-Leitzins nun bei −0,25%. Gleichzeitig signalisierten wir, dass in absehbarer Zukunft weitere Zinsschritte nötig werden könnten. Mit der Zinserhöhung wertete sich der Franken weiter auf.

Die Notwendigkeit einer geldpolitischen Straffung zeigt sich in unserer bedingten Inflationsprognose vom Juni 2022 (Abbildung 5). Gemäss dieser Prognose steigt die Inflation bei einem konstanten SNB-Leitzins von −0,25% nach einem vorübergehenden Rückgang über die Zeit wieder auf 2% an. Ohne die Zinserhöhung im Juni würde die Inflation mit grosser Wahrscheinlichkeit mittelfristig deutlich darüber und somit ausserhalb des Bereichs der Preisstabilität verharren.

Unser geldpolitischer Entscheid im Juni muss auch als ein Abwägen zwischen verschiedenen Risiken gesehen werden. Eine zu frühe oder zu starke Straffung könnte die konjunkturelle Entwicklung abwürgen und allenfalls erneut Deflationsrisiken mit sich bringen. Im Fall der Schweiz überwogen aber die Risiken einer zu späten Straffung deutlich. Ein Zuwarten hätte die Notwendigkeit eines abrupteren und stärkeren Zinsanstiegs zu einem späteren Zeitpunkt nach sich gezogen, mit dem Risiko eines grösseren Wirtschaftseinbruchs und mit Gefahren für die Finanzstabilität. So zeigen die Erfahrungen der Nationalbank aus den späten 1980er und frühen 1990er-Jahren, der letzten Phase mit höherer Inflation in der Schweiz, dass eine ausgesprochen restriktive Geldpolitik mit gravierenden realwirtschaftlichen Folgen nötig sein kann, wenn die Inflation einmal ein bestimmtes Niveau überschreitet. Der im Bezug zur Inflationsentwicklung vergleichsweise frühe und deutliche Kurswechsel sowie unser Ausblick auf eine mögliche weitere Straffung in naher Zukunft zielten somit darauf ab, die mittelfristige Preisstabilität zu gewährleisten, ohne die Konjunktur allzu stark zu belasten.

Dieses Abwägen verschiedener Risiken erfolgt in einem von ungewöhnlicher Unsicherheit geprägten Umfeld. Was bedeutet diese Unsicherheit für die SNB? Unmittelbar betrifft die Unsicherheit vor allem die Interpretation der aktuellen Datenlage. Für unsere geldpolitischen

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SNB - Swiss National Bank published this content on 27 August 2022 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 27 August 2022 17:10:00 UTC.