(Im dritten Absatz, erster Satz wurde berichtigt, dass es sich um einen Sprecher (nicht: Sprecherin) des Verbraucherschutzministeriums handelte.)

FRANKFURT/BERLIN (dpa-AFX) - Geht es nach dem Willen der Verbraucherschützer, müssen Flugpassagiere künftig nicht mehr gleich bei der Buchung den vollen Ticketpreis bezahlen. Das von SPD und CDU regierte Land Niedersachsen hat sich mit einer Bundesratsinitiative den Vorstoß der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) gegen die Vorkasse zu eigen gemacht und auch aus dem grün geführten Bundesministerium für Umwelt und Verbraucherschutz kommt Rückenwind. Die Airlines und ihre Verbände halten dagegen.

"Passagiere sind es leid, den Airlines zinslose Kredite zu geben, bei abgesagten Flügen auf den Kosten sitzen zu bleiben oder im schlimmsten Fall das Risiko einer Insolvenz tragen zu müssen", sagte VZBV-Mobilitätsexpertin Marion Jungbluth dem "Handelsblatt". Von der Bundesregierung verlange man, die Vorkassepraxis zu reformieren. Gezahlt werden solle künftig erst beim Check-in.

Die Fluggesellschaften seien in der Pflicht, bei berechtigten Ansprüchen Erstattungen, Ausgleichszahlungen und Entschädigungen schnell und unbürokratisch zu leisten, formulierte am Montag ein Sprecher von Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne). Wenn dies nicht laufe, werde man die Vorkassepraxis überprüfen.

Allerdings existieren drei Urteile des Bundesgerichtshofs, der noch im Jahr 2016 das Vorkasseprinzip der Airlines für rechtmäßig erklärt hat. Die Verbraucher seien durch die EU-Fluggastverordnung ausreichend geschützt und das Insolvenzrisiko durch staatliche Kontrolle in Grenzen gehalten, befanden die Bundesrichter. Mögliche Zinsnachteile der Kunden würden regelmäßig durch Preisvorteile bei frühen Buchungen ausgeglichen.

Seitdem haben sich aber die Zeiten geändert, meinen die Verbraucherschützer, die nun auf eine Gesetzesänderung dringen: Nur kurze Zeit nach dem BGH-Urteil blieben Tausende Kunden der insolventen Air Berlin bis auf Weiteres auf ihren Ticketkosten sitzen, es folgten der Chaos-Sommer 2018 und schließlich der Corona-Schock im März 2020. Hunderttausende Tickets wurden von jetzt auf gleich storniert, der Lufthansa-Konzern schaltete die automatisierte Erstattung ab, um nicht durch den Abfluss von Kundengeldern in Milliardenhöhe direkt in die Pleite abzustürzen.

Den Neustart in diesem Sommer hat das Luftverkehrssystem dann ziemlich verpatzt. Fehlende Arbeitskräfte an den Flughäfen und in den Jets führten zu unterirdischen Pünktlichkeitswerten, so dass allein Lufthansa in München und Frankfurt an die 7000 Flüge streichen musste, um das System zu stabilisieren. An den NRW-Flughäfen waren von Mitte Mai bis Mitte Juli mehr als 258 000 Passagiere von Flugausfällen betroffen, wie die Landesregierung in Düsseldorf auf Anfrage berichtete.

Sie alle hatten mutmaßlich das Recht auf eine Erstattung des Ticketpreises innerhalb von sieben Tagen sowie auf Entschädigungszahlungen zwischen 250 und 600 Euro nach der EU-Fluggastrichtlinie 261, die bereits ab drei Stunden Verspätung greift. Auch bei der Schlichtungsstelle für den Öffentlichen Personenverkehr (SÖP) sind die Fallzahlen laut "Handelsblatt" um mehr als das Doppelte gestiegen.

"In der Praxis funktioniert das Recht nicht", ist Helga Zander-Hayat von der Verbraucherzentrale NRW überzeugt. Eine Sprecherin der Lufthansa hält dagegen: "Trotz der vielen Flugplanänderungen leisten wir die Erstattungen nahezu vollständig in der vorgegebenen Frist von nur sieben Tagen. Insofern gibt es für diese politische Initiative keinen Anlass."

Die Vorkasse sei international und auch in anderen Dienstleistungsbranchen üblich, argumentiert der Branchenverband BDL. "Die Fluggesellschaften erhalten durch die Vorkasse Planungssicherheit und können ihre Flugzeuge optimal auslasten, was positiv für das Klima ist. Ihren Kunden können sie im Gegenzug dafür attraktive Frühbucherrabatte anbieten", sagt BDL-Hauptgeschäftsführer Matthias von Randow. "Ein Ende der Vorauskasse würde in der Konsequenz bedeuten, dass die Tickets teurer würden: das Ausfallrisiko müsste inkludiert werden, auf alle Tickets umgelegt und damit mitfinanziert werden."

Im Verkehrsministerium sieht man den niedersächsischen Vorstoß skeptisch. Man werde den Vorschlag prüfen, sagte ein Sprecher des Ministers Volker Wissing (FDP) dem "Handelsblatt". Grundsätzlich strebe die Bundesregierung aber eine EU-weite Lösung an, weil nationale Regelungen umgangen werden und zu Wettbewerbsnachteilen führen könnten.

Lars Watermann vom Fluggastrechteportal "EUflight.de" glaubt nicht an die heilende Wirkung einer Vorkassen-Abschaffung. "Kein einziger unregelmäßiger Flug würde dadurch pünktlicher oder nicht annulliert. Es würde eher der Trend verstärkt, dass bei zu geringer Auslastung Flüge gestrichen werden." Seiner Meinung nach sind die Airlines allein über noch höhere Ausgleichszahlungen zu packen.

Im Hintergrund geht es ohnehin um mehr. Tschechien will das Thema Fluggastrechte trotz Pannen-Sommer möglicherweise noch in diesem Jahr im Rat der Europäischen Union neu behandeln. Die EU-Kommission hatte bereits 2013 unter anderem vorgeschlagen, die seit 2004 bestehenden Entschädigungsansprüche erst nach fünf Stunden auszulösen und zudem neue "Enthaftungsgründe" einzuführen, bei denen die Airlines nicht zahlen müssten. In dieser Diskussion gilt es, rechtzeitig Argumente und Punkte zu sammeln./ceb/DP/ngu