Großbritannien steht kurz davor, am Montag die bedeutendste Neuausrichtung seiner Beziehungen zur Europäischen Union seit dem Brexit zu vereinbaren. Ziel ist eine engere Zusammenarbeit im Handel und in der Verteidigung, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und die Sicherheit auf dem Kontinent zu stärken.
Premierminister Keir Starmer, der seinerzeit für den Verbleib in der EU plädierte, setzt darauf, dass greifbare Vorteile für die britische Bevölkerung das Gerede von einem ,,Brexit-Verrat" - wie es Kritiker wie der Vorsitzende der Reform UK, Nigel Farage, anführen - überwiegen werden, wenn er auf einem Gipfel in London eine stärkere Annäherung an die EU beschließt.
Starmer wird argumentieren, dass sich die Welt seit dem Austritt Großbritanniens aus der EU im Jahr 2020 grundlegend verändert hat. Im Zentrum des neuen Kurses steht ein Verteidigungs- und Sicherheitspakt, der britischen Rüstungsunternehmen den Weg ebnen könnte, an einem 150-Milliarden-Euro-Programm (167 Milliarden US-Dollar) zur Wiederaufrüstung Europas teilzunehmen.
Der Kurswechsel folgt auf die Umwälzung der Nachkriegsordnung durch US-Präsident Donald Trump und die umfassende Invasion Russlands in der Ukraine. Diese Ereignisse haben Regierungen weltweit dazu gezwungen, ihre Beziehungen in den Bereichen Handel, Verteidigung und Sicherheit zu überdenken.
Großbritannien hat Anfang des Monats ein umfassendes Handelsabkommen mit Indien geschlossen und von den USA einige Zollvergünstigungen erhalten. Auch die EU beschleunigt ihre Bemühungen, Handelsabkommen mit Ländern wie Indien zu schließen und Partnerschaften mit Staaten wie Kanada, Australien, Japan und Singapur zu vertiefen.
Die Verhandlungen zwischen beiden Seiten dauerten bis Sonntagabend an, bevor EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Antonio Costa am Montagmorgen in London erwartet wurden. Ein EU-Diplomat warnte: ,,Nichts ist vereinbart, bevor nicht alles vereinbart ist."
Zu den Gesprächsthemen gehört, dass Großbritannien eine drastische Reduzierung der Grenzkontrollen und des bürokratischen Aufwands anstrebt, die derzeit den Export von Lebensmitteln und Agrarprodukten zwischen Großbritannien und der EU ausbremsen. Auch ein schnellerer Zugang zu E-Gates für britische Reisende an EU-Flughäfen wäre äußerst populär.
Im Gegenzug wird erwartet, dass Großbritannien einer begrenzten Jugendmobilitätsregelung zustimmt und möglicherweise wieder am Erasmus+-Studentenaustauschprogramm teilnimmt. Frankreich fordert zudem eine langfristige Vereinbarung zu Fischereirechten, einem der emotionalsten Themen während des Brexits.
WENIG SPIELRAUM
Die historische Volksabstimmung über den EU-Austritt im Jahr 2016 offenbarte ein tief gespaltenes Land - von Migration und Souveränität bis hin zu Kultur und Handel. Dies löste eine der turbulentesten Phasen in der britischen Politikgeschichte aus, in der fünf Premierminister das Amt innehatten, bevor Starmer im vergangenen Juli übernahm - und vergiftete die Beziehungen zu Brüssel.
Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Briten die Entscheidung mittlerweile bereut, auch wenn sie keinen Wiedereintritt in die EU wünschen. Farage, der jahrzehntelang für den Brexit kämpfte, führt derzeit die Meinungsumfragen an, was Starmer nur begrenzten Handlungsspielraum lässt.
Doch der Premierminister und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben angesichts ihrer Unterstützung für die Ukraine ein solides Verhältnis aufgebaut. Zudem ist Starmer nicht mit den Brexit-Streitigkeiten der Vergangenheit belastet, was die Stimmung verbessert hat.
'DAS TABU BRECHEN'
Der wirtschaftliche Nutzen bleibt durch Starmers Versprechen begrenzt, weder dem EU-Binnenmarkt noch der Zollunion wieder beizutreten. Stattdessen versucht er, in bestimmten Bereichen besseren Marktzugang zu verhandeln - eine schwierige Aufgabe, da die EU ein sogenanntes ,,Rosinenpicken" von Vorteilen ohne die Verpflichtungen einer Mitgliedschaft ablehnt.
Der Abbau von Bürokratie im Lebensmittelhandel würde bedeuten, dass Großbritannien eine EU-Aufsicht über Standards akzeptieren muss. Starmer dürfte jedoch argumentieren, dass dies angesichts sinkender Lebensmittelpreise und eines schleppenden Wirtschaftswachstums lohnenswert sei.
Eine langfristige Vereinbarung zu Fischereirechten wird ebenfalls auf Widerstand von Farage stoßen, während die oppositionelle Conservative Party den Gipfel am Montag als ,,Kapitulationsgipfel" bezeichnete.
Ein Handelsexperte, der Politiker in London und Brüssel beraten hat, sagte, die Regierung müsse das ,,Tabu" brechen und EU-Regeln akzeptieren - insbesondere, wenn dies Landwirten und kleinen Unternehmen helfe.
Handelsexperten betonten zudem, dass Großbritannien vom stärkeren Fokus auf Verteidigung profitiere, was das Abkommen ausgewogener erscheinen lasse. Verbesserte Beziehungen seien in einer zunehmend instabilen Welt sinnvoll.
,,Wenn Handelsstörungen so sichtbar und erheblich sind", sagte Allie Renison, ehemalige britische Regierungsbeamtin und heutige Beraterin bei SEC Newgate, ,,ergibt alles, was die Handelshemmnisse mit dem wichtigsten Handelspartner verringert, Sinn."
(1 US-Dollar = 0,8958 Euro)