Nach der rasanten Erholung im Anschluss an den Corona-Einbruch hat der für die Börsen der Schwellenländer repräsentative MSCI Emerging Markets Index seit Februar d. J. merklich an Dynamik verloren. Bis Mitte Februar konnte der Index ein Plus von ca. 14 % seit Jahresbeginn vorweisen, das mittlerweile auf gut 5 % zusammengeschmolzen ist. Demgegenüber hat sein Pendant - der Industrieländer-Index MSCI World - in diesem Jahr bislang um rund 21 % zugelegt (alle Daten auf Euro-Basis).

Auf 10-Jahres-Sicht ergibt sich mittlerweile ein sehr deutlicher Rückstand der Schwellenländeraktien.

Mit dem Emerging-Markets-Thema hatten wir uns bereits im Logbuch vom 26. Februar 2021 ausführlicher befasst (Die Schwellenländer melden sich zurück). Mit Blick auf die längerfristigen Perspektiven der Schwellenländer hatten wir uns seinerzeit zuversichtlich gezeigt. Allerdings hatten wir auch darauf hingewiesen, dass bei Investments in den Emerging Markets ein langer Atem und mitunter auch gute Nerven vonnöten sind. Gerade Letzteres hat sich jüngst bestätigt.

Die zuletzt enttäuschende Kursentwicklung des MSCI Emerging Markets Index (gerade auch im Vergleich zum MSCI World Index) nehmen wir zum Anlass, die aktuelle Situation in den Schwellenländern noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

MSCI Emerging Markets Index - die 'Fieberkurve' der Schwellenländer

Bevor wir näher auf die Hintergründe der zuletzt unbefriedigenden Entwicklung an den Aktienbörsen der Schwellenländer eingehen und einen Blick auf die weiteren Aussichten werfen, ist es hilfreich, sich etwas genauer die Zusammensetzung des MSCI Emerging Markets Index anzuschauen. Er ist der mit Abstand wichtigste und bekannteste Index zur Messung der Aktienmarktentwicklung in den Schwellenländern.

Der Index enthält Aktien von rund 1.400 Unternehmen aus 27 unterschiedlichen Schwellenländern. Dominiert wird der Index von Unternehmen aus Asien - allein auf Firmen aus China, Taiwan, Südkorea und Indien entfällt ein Anteil von rund 73 % am gesamten 'Index-Kuchen' (auf ganz Asien einer von ca. 78 %). Die hohe Gewichtung ist der Tatsache geschuldet, dass die Wachstumsregion Asien mittlerweile - neben den USA - zum Motor der gesamten Weltwirtschaft geworden ist. Von daher muss man sich insbesondere mit der Region Asien - und hier vor allem mit dem Schwergewicht China (Index-Anteil fast 35 %) - näher beschäftigen, wenn es um Ursachenforschung und die weiteren Aussichten geht.

Was sind nun die Gründe dafür, dass sich die noch zu Jahresbeginn freundliche Börsenstimmung in den Emerging Markets mittlerweile merklich abgekühlt hat?

Die Region Asien (ohne Japan) hatte die Pandemie im Allgemeinen besser bewältigt als viele andere Regionen der Welt. Die steigende Nachfrage nach Exportgütern hatte in einigen asiatischen Ländern die Wirtschaftserholung stark angekurbelt. China war dabei der Hauptnutznießer, aber auch Südkorea, Taiwan und Malaysia konnten eine starke Erholung verzeichnen.

Zuletzt wurde der optimistische Wirtschaftsausblick allerdings durch die Sorge um die neue Deltavariante des Coronavirus überschattet. Zudem lösten weitreichende regulatorische Vorgaben für chinesische Internet-Unternehmen eine massive Verkaufswelle aus. Taiwan und Südkorea werden indessen weiterhin durch den starken Technologieexport gestützt. Auch aus anderen Schwellenländerregionen gibt es Positives zu berichten: In Mittel- und Osteuropa erholt sich die Wirtschaft zusehends und ein konjunktureller Aufwärtstrend ist auch in Lateinamerika zu beobachten. Insgesamt gestaltet sich die Lage in der asiatischen Region aktuell aber eher durchwachsen, während viele Teile der Welt allmählich zu einer gewissen Normalität zurückkehren.

China als Spielverderber

Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt steht - aufgrund der erwähnten hohen Gewichtung - im Mittelpunkt, wenn es um Erklärungsansätze für die zuletzt maue Entwicklung des MSCI Emerging Markets Index geht. So macht die (aller Voraussicht nach) von China ausgehende Pandemie den Schwellenländern - so unterschiedlich die Lage in jedem einzelnen Land auch sein mag - ganz aktuell mehr zu schaffen als den meisten Industrieländern. Dies gilt insbesondere für das Reich der Mitte. Zu den möglichen Ursachen gehören relativ niedrige Impfquoten, was gerade angesichts der hoch ansteckenden Delta-Variante ein Problem ist. Dies wiederum verursacht Sorgen über zunehmende Lockdowns, was in der Folge Risiken für die weitere wirtschaftliche Erholung birgt. Die jüngsten Wirtschaftsdaten aus dem Reich der Mitte blieben bereits hinter den Erwartungen zurück.

So verwundert es nicht, dass sich der Wachstumsvorsprung der Emerging Markets zuletzt verringert hat. So erwartete z. B. der Internationale Währungsfonds (IWF) im März d. J. für die Schwellen- und Industrieländer noch jeweils ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 6,7 bzw. 5,1 % für 2021. Derzeit erwarten sie Zuwachsraten von 6,3 bzw. 5,6 %, so dass der prognostizierte Vorsprung von 1,6 auf aktuell 0,7 Prozentpunkte geschrumpft ist. Allerdings reden wir hier immer noch von einem regelrechten Wirtschaftsboom in den Emerging Markets und von einem spürbaren Wachstumsvorsprung der Schwellenländer gegenüber den Industrienationen, was auch der 2019er-Vorsprung und der deutlich geringere BIP-Rückgang im letzten (Corona-)Jahr unterstreichen (siehe Grafik). Zudem sind einige Investmentbanken deutlich optimistischer in ihren Schätzungen für die Schwellenländer. So erwartet z. B. das US-Haus Morgan Stanley ein BIP-Wachstum von deutlich über 7 % (bei ähnlichen Schätzungen für die Industrieländer wie der IWF).

Zuletzt hat die vor allem gegen Internet-Unternehmen gerichtete Regulierungskampagne der chinesischen Behörden für Druck an den chinesischen und asiatischen Börsen im Allgemeinen gesorgt. Hintergrund: Kürzlich wurde seitens der chinesischen Staatsführung angekündigt, gegen Monopolstrukturen - insbesondere in der Technologiebranche - vorzugehen. Wie schon bei anderen Gelegenheiten betonte die Regierung auch in diesem Fall, dass sie vor allem das Gesamtwohl der Bevölkerung im Blick habe. So sollen in den kommenden Jahren zudem Maßnahmen zur Umverteilung von (größeren) Einkommen durchgeführt werden, im Zuge derer Gutverdienende und Unternehmen stärker belastet werden sollen. Wie besagte Maßnahmen konkret aussehen werden, ist derzeit allerdings noch unklar.

Die chinesische Regierung war lange Jahre eine wichtige Stütze für das schnelle Wachstum der chinesischen Technologie-Giganten (wie Alibaba, Tencent oder Baidu). Sie hielt ihre schützende Hand über die 'Eigengewächse' und ließ sie weitgehend ungestört (auch von ausländischer Konkurrenz) den Heimatmarkt erobern. Das hat sich jetzt schlagartig geändert. Mögliche Ursache: Vor allem die Firmenbosse der großen Techkonzerne gerierten sich immer öfter selbstbewusst, unabhängig, teils sogar vorsichtig kritisch in Bezug auf das politische System - und sollen nun offenbar 'lernen', sich dem Kontroll- und Führungsanspruch der Kommunistischen Partei Chinas unterzuordnen. Einige der besagten Bosse versuchen sich bereits in Bußübungen.

Durch diese Vorgänge wurde den internationalen Investoren einmal mehr vor Augen geführt, dass es sich bei China nach wie vor um eine Diktatur handelt, in der jederzeit auch mit willkürlichen Staatseingriffen gerechnet werden muss.

Die chinesische Regulierungskampagne trübt also momentan die Stimmung in den Schwellenländern im Allgemeinen - speziell aber in den asiatischen Staaten. Zudem trägt sie neben anderen Faktoren - wie der bereits erwähnten in China um sich greifenden Delta-Variante - zu einer geringeren Risikoneigung spekulativ orientierter Investoren bei, die deshalb momentan eher einen Bogen um Schwellenländerinvestments machen. Aber es gibt durchaus auch Lichtblicke.

Positive Aspekte werden derzeit unterschätzt und negative überschätzt

Letzteres gilt unseres Erachtens auch mit Blick auf China. Denn bei näherem Hinsehen zeigt sich: Die Staatseingriffe werden den Spielraum der chinesischen Technologie-Riesen zwar einengen, ihren Aufstieg auf lange Sicht aber kaum stoppen. Peking hat zudem verstanden, wie groß die Sorgen vor allem westlicher Investoren sind, und bemühte sich zuletzt, Ängste zu zerstreuen. Tatsächlich dürfte die chinesische Regierung kein Interesse daran haben, ihre erfolgreichen Großkonzerne 'kaputt zu regulieren'.

Die regulatorische Unsicherheit könnte für chinesische Unternehmen allerdings noch eine gewisse Zeit andauern. Wer diese Unsicherheit aushalten kann, sollte sich vergegenwärtigen, dass es in China auch im neuen Regulierungsumfeld viele hoch innovative Unternehmen mit guten Wachstumsaussichten gibt. Und trotz aller Sorgen in Bezug auf eine nachlassende Wirtschaftsdynamik: China verfügt über den vermutlich dynamischsten Markt weltweit - und daran wird sich auch so schnell nichts ändern.

Losgelöst von Asien und China im Speziellen: Viele Anleger unterschätzen, wie nachhaltig sich die Schwellenländermärkte in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt haben. Das Aktienuniversum wird nicht mehr wie zu Zeiten des 'BRIC-Wunders' (BRIC als Akronym für Brasilien, Russland, Indien und China) von Energie-, Rohstoff- und verarbeitenden Exportunternehmen dominiert. Vielmehr findet sich in vielen Schwellenländern eine wachsende Zahl erstklassiger, innovativer Unternehmen, etwa aus den Bereichen IT, Gesundheit und Umweltschutz. Diese profitieren von strukturellen Trends wie steigenden Konsumausgaben im Inland, der Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Technologien (speziell der Asiaten) und dem Kampf gegen den Klimawandel.

Der im Gange befindliche Übergang vom eher exportgetragenen Wachstum zu einem, das von einer lebhaften Binnennachfrage getragen wird, ist ein zweifelsohne positiver Aspekt. Wesentlicher Treiber dieses Trends ist die wachsende zahlungskräftige Mittelschicht in den Schwellenländern. Diese dürfte Studien zufolge allein in China bis 2027 auf 1,2 Mrd. Menschen anwachsen - das wäre ein Viertel der Mittelschicht weltweit. Diese anhaltende Verschiebung kurbelt die Binnennachfrage nach Waren und Dienstleistungen an, die zu einem beträchtlichen Teil von schnell wachsenden heimischen Unternehmen gestillt werden dürfte.

Kleiner Exkurs: Die Abkürzung 'BRIC' wurde von Jim O'Neill - Chefvolkswirt der Großbank Goldman Sachs - geprägt, welcher sie in einer Reihe von Veröffentlichungen verwendete, zuerst Ende 2001. O'Neill traute den vier BRIC-Staaten damals ein besonders starkes Wachstum zu.

Fazit

Um die in der Überschrift aufgeworfene Frage abschließend zu beantworten: Unseres Erachtens eröffnet sich für langfristig denkende Anleger gegenwärtig eine günstige Gelegenheit, ihr Depot durch ein breit gestreutes Engagement in den Schwellenländern (vorzugsweise via ETFs) zu ergänzen. Günstig deshalb, weil die Aktienkurse zuletzt stärker korrigiert haben und unabhängig von aktuellen 'Irritationen' (Regulierungswelle in China) die langfristigen, von strukturellem Wachstum getragenen positiven Aussichten für Unternehmen in den Emerging Markets intakt sind. Anleger, die bereits investiert sind, sollten folglich auch dabeibleiben.

Ergo: Breit gestreut in Aktien aufstrebender Staaten zu investieren, um ein ansonsten gut strukturiertes Aktiendepot abzurunden, sollte sich langfristig auszahlen. Die Tatsache, dass Aktien aus den Schwellenländern derzeit bei den Anlegern nicht sonderlich hoch im Kurs stehen, ist zudem nicht der schlechteste Grund, gerade jetzt zuzugreifen.

Neben der erforderlichen Geduld und einer breiten Streuung des Investments sollte der Anleger zudem einen Schuss Risikofreude mitbringen. Die Kursschwankungen an den Börsen der Schwellenländer fallen nämlich erfahrungsgemäß stärker aus als in den Industrienationen.

Autor: Prof. Dr. Stefan May, Leiter Anlagemanagement der Quirin Privatbank, unter besonderer Mitwirkung von Andreas Naujeck (Senior Analyst)

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quirin Privatbank AG published this content on 10 September 2021 and is solely responsible for the information contained therein. Distributed by Public, unedited and unaltered, on 10 September 2021 12:31:02 UTC.