Von Bojan Pancevski und Georgi Kantchev

BERLIN (Dow Jones)--Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die Bundesregierung versprochen, das Land von russischen Erdgaslieferungen unabhängig zu machen. In dieser Woche erklärte sie, sie werde der deutschen Tochtergesellschaft des russischen Gasriesen Gazprom PJSC Milliarden von Euro leihen, um deren Zusammenbruch zu verhindern. Das ist nur scheinbar ein Widerspruch - und es steht dabei für Deutschland viel auf dem Spiel.

Die am Dienstag angekündigte Rettungsaktion in Höhe von rund 10 Milliarden Euro kommt nur wenige Wochen, nachdem Berlin die Kontrolle über das deutsche Geschäft von Gazprom übernommen hatte. Der Vorgang zeigt, wie schwierig es für Deutschland ist, sich einerseits langsam von russischen Gaslieferungen zu lösen, sie aber andererseits kurzfristig abzusichern, um die gashungrige Wirtschaft zu versorgen.

Es zeigt auch, wie das Russland Wladimir Putins jahrelang Energie nutzte, um sich in das Gefüge der Weltwirtschaft einzubinden. Das Schicksal der Gazprom Germania GmbH, wie die Tochtergesellschaft genannt wird, könnte Auswirkungen weit über Deutschland hinaus haben. Trotz seines Namens verfügt das Unternehmen über ein globales Netzwerk mit Niederlassungen bis nach Texas, Mexiko und Singapur.

Die britische Tochtergesellschaft war einer der größten Gasversorger von Unternehmen und Institutionen auf der Insel, mit 30.000 Kunden, zu denen der Nationale Gesundheitsdienst, Geschäfte, Pubs und der englische Fußballverein Chelsea gehörten.


   Gazprom-Konzern gab Gazprom Germania Ende März auf 

Die Geschichte, wie Berlin zum widerwilligen Verwalter eines großen Teils des internationalen Geschäfts von Gazprom wurde, begann am 31. März, als der russische Konzern bekannt gab, dass er seine deutsche Tochtergesellschaft aufgegeben habe. Diese Ankündigung ließ Regierungsvertreter in Berlin verwirrt und alarmiert zurück: Die Tochtergesellschaft lieferte einen Großteil des deutschen Gases und besaß wichtige Infrastrukturen im Land, wie Tausende von Kilometer an Pipelines und riesige Speicheranlagen.

Vor dem Krieg in der Ukraine kam mehr als die Hälfte der deutschen Gasimporte aus Russland. Deutsche Regierungsbeamte sagten, sie hätten später erfahren, dass die Kontrolle über die deutsche Konzern-Einheit an einen Moskauer Discjockey und Autoverkäufer übertragen worden sei. Sie glauben, dass das russische Unternehmen versucht haben könnte, die Verträge von Gazprom mit seinen europäischen Kunden zu annullieren, um eine Neuverhandlung zu günstigeren Bedingungen und letztlich zu höheren Preisen zu erzwingen. Dieses drohende Szenario beeinflusst das Handeln der Regierung.


   Bundesregierung stellte Gashändler unter Treuhänderschaft 

Innerhalb weniger Stunden schalteten sich Bundeskanzler Olaf Scholz, wichtige Minister und Berater ein. Nachdem es nicht gelungen war, Führungskräfte von Energieunternehmen zur Übernahme des Unternehmens zu bewegen, aktivierten Scholz und seine Berater Plan B und stellten das Unternehmen unter die Treuhänderschaft der deutschen Energieaufsichtsbehörde. Dies war möglich, weil Gazprom Deutschland nicht im Voraus über den Eigentümerwechsel informiert hatte, wie es das deutsche Recht verlangt.

Die Regierung muss nun das weitläufige Konsortium prüfen, alle versteckten Verbindlichkeiten aufdecken und entweder einige Teile verstaatlichen oder die Vermögenswerte aufteilen und versteigern, ohne den für die Wirtschaft lebenswichtigen Fluss von russischem Gas nach Deutschland zu unterbrechen. Gazprom reagierte nicht auf eine Anfrage zur Stellungnahme.


   Einzigartige Situation in der deutschen Wirtschaftsgeschichte 

"Wir haben versucht, die äußerst komplexen Zusammenhänge bei den 49 Tochtergesellschaften zu verstehen, die Risiken zu bewerten und uns auf die Versorgungssicherheit Deutschlands und unserer europäischen Nachbarn zu konzentrieren", sagte Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur. "Es gibt einfach keinen Fahrplan, kein Vorbild für die Situation, in der wir uns jetzt befinden...Es ist eine einzigartige Situation in der deutschen Wirtschaftsgeschichte."

Dutzende von Beamten und externen Experten durchforsten jetzt die Konten der Unternehmen. Einer von ihnen ist der Kanzler-Berater Jörg Kukies, ein ehemaliger Banker von Goldman Sachs. Kukies, ein Experte für Derivate, riet Scholz davon ab, das Unternehmen zu verstaatlichen, da das Risiko bestehe, dass es Verbindlichkeiten habe, die groß genug seien, um den Staatshaushalt zu belasten.


   Beamte stehen vor "intransparentem Konstrukt" 

Gazprom und die russischen Manager des Unternehmens in Deutschland hätten sich bisher geweigert, die Regierung bei ihrer Prüfung zu unterstützen, sagten mehrere Beamte. "Dies ist ein absichtlich intransparentes Konstrukt, und wir versuchen, mehr Transparenz zu erzwingen, aber sie tun alles, um das zu verhindern ... Es ist keine freundschaftliche Zusammenarbeit", sagte einer von ihnen.

Ein hochrangiger Germania-Manager bestritt dies. Er sagte, er kooperiere mit den Behörden sowie mit der Boston Consulting Group und CMS Hasche Sigle, die von der Regierung mit der Verwaltung der russischen Holding und der Prüfung ihrer Bücher beauftragt wurden. Germania, die im Jahr 2020 einen Umsatz von 12,8 Milliarden Euro erwirtschaftete, besitzt die Wingas GmbH, einen der größten deutschen Erdgasverteiler mit großen Industriekunden.

Das Unternehmen besitzt zudem Gasspeicherinfrastruktur in ganz Deutschland, darunter Rehden, den größten Gasspeicher der EU, sowie Anlagen in anderen Ländern wie den Niederlanden, Österreich und der Tschechischen Republik. Diese sind die Hauptkandidaten für einen möglichen Verkauf. Der Erlös, den Berlin auf bis zu 3 Milliarden Euro schätzt, würde an Gazprom fließen. Mehrere Unternehmen hätten ihr Interesse an Gesprächen mit der Regierung bekundet, sagte der Beamte, aber die Ausgliederung der gesunden Teile des Konglomerats sei rechtlich schwierig.

"Das Letzte, was wir wollen, ist eine Schadensersatzklage, die von einem deutschen Gericht genehmigt würde, und auf diese Weise die Geldsumme zu vergrößern, den wir Putin überweisen", sagte der Beamte.


   Deutschland will langfristige Lieferverträge nicht gefährden 

Germania hat eine Reihe von langfristigen Gaslieferverträgen mit Gazprom. Die Beibehaltung dieser Verträge ist nach Angabe der Beamten von großer Bedeutung, da sie ältere, niedrige Gaspreise festschreiben. Die Neuverhandlung neuer Verträge würde höhere Preise bedeuten und die Infrastruktur für potenzielle Käufer unattraktiv machen. "Als wir die Gasspeicher kauften, wollte sie niemand haben, weil niemand sie voll halten konnte, und das ist nach wie vor der Fall", sagte der ehemalige Geschäftsführer von Gazprom Germania.

Im Mai verhängte Russland Sanktionen gegen rund 30 Germania-Töchter - die meisten der an der Gasversorgung Deutschlands beteiligten Unternehmensteile wurden verschont -, was den Verkauf auch dieser Unternehmen erschweren könnte. Das Ziel der russischen Sanktionen, so sagen Beamte, bestand nicht darin, die Gaslieferungen zu stoppen, sondern das Gas für das Unternehmen teurer zu machen und Deutschland unter Druck zu setzen.


   Bund sah sich in der Pflicht zur Gazprom-Germania-Rettung 

Deutsche Beamte erklärten, dies mache eine Rettungsaktion unvermeidlich, da das Unternehmen Schwierigkeiten habe, Finanzmittel von den Kapitalmärkten zu erhalten, die durch die Sanktionen zwischen Russland und dem Westen verunsichert seien. Außerdem war das Unternehmen gezwungen, immer teureres Gas auf dem Spotmarkt zu kaufen.

Germania wurde in den 1990er Jahren von ehemaligen DDR-Regierungsmitarbeitern gegründet und mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern besetzt, um Gasexporte nach Deutschland abzuwickeln. Später wurde Germania durch eine Reihe von Übernahmen und Konsolidierungen zu einem der wichtigsten internationalen Zweige von Gazprom.

In den 2000er Jahren ging Gazprom dazu über, das Gas nicht mehr nur im Großhandel zu liefern, sondern es direkt an Kunden zu verkaufen, es zu lagern und mit Derivaten zu handeln. Im Laufe der Zeit wurden diese Geschäftsbereiche unter dem Dach der Gazprom Germania zusammengefasst, und die Leitung des Unternehmens berichtete direkt an die Gazprom-Zentrale.

"Sie merkten, dass das wirkliche Geld nicht im Großhandel mit Gas verdient wird, sondern in den nachgelagerten Bereichen", sagt Sergey Vakulenko, ein unabhängiger Energieexperte und ehemaliger russischer Energiemanager. Ein wichtiger Bestandteil des Expansionsplans war die Londoner Gazprom Marketing & Trading Ltd. Sie agiert als Rohstoffhändler, handelt aber auch mit Gaspreisderivaten. Im Jahr 2020 erwirtschaftete sie einen Umsatz von rund 2,6 Milliarden Pfund.

Das Derivategeschäft sei besonders riskant, sagte Adi Imsirovic, eine ehemalige Führungskraft bei Gazprom Marketing & Trading. "Die Übernahme eines Handelsunternehmens ist riskant", fügte er hinzu. "Man weiß nie, was auf einen zukommt, bis man die Bücher geprüft hat."

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June 16, 2022 07:04 ET (11:04 GMT)