Von Rochelle Toplensky

LONDON (Dow Jones)--Das fast Undenkbare ist inzwischen eingetreten. Noch vor sechs Monaten mutete es völlig aus der Luft gegriffen an, dass Moskau die Gaslieferungen nach Berlin kappen würde. Jetzt wird dieses Szenario zunehmend das wahrscheinlichste. Deutschland hat zuletzt den Gasnotstand auf die zweithöchste Stufe angehoben. Die Änderung kam nicht unerwartet - der russische Gasriese Gazprom hatte vergangene Woche die Gaslieferungen über die wichtige Nord-Stream-1-Pipeline gedrosselt -, ist aber dennoch ein Zeichen für die wachsende Besorgnis Berlins. Derweil ging es für die europäischen Preise für Flüssiggas und Strom, die bereits in der vergangenen Woche stark zugelegt hatten, weiter nach oben.

Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin jahrzehntelang unabhängig vom politischen Klima zuverlässig Gas geliefert hatte, scheint er nun bereit zu sein, seine Energiewaffe fast offen gegen seinen langjährigen europäischen Förderer einzusetzen. Moskau hat Polen und Bulgarien Anfang des Jahres den Gashahn zugedreht, doch war dies weitgehend symbolisch, da ihre Verträge bald ausliefen. Deutschland hat weniger Alternativen zu russischem Gas. Die Reduzierung der Gaslieferungen ist kühn, auch wenn sie indirekt erfolgt - Moskau beschuldigte Kanada, einen Kompressor zurückzuhalten, der in Kanadas Hoheitsgebiet gewartet wurde. Berlin ist besorgt, dass Putin noch weiter gehen könnte. Er wird die Gelegenheit dazu haben. Gazprom wird Nord Stream 1 bald für die jährliche Wartung vom Netz nehmen. Ihre Wiederinbetriebnahme könnte sich verzögern oder sogar auf unbestimmte Zeit verschoben werden.


   Berlin setzt auf LNG-Anlagen 

Als relativ billiger und sauberer fossiler Brennstoff hat Erdgas in der Stromerzeugung, beim Heizen und in der Industrie zunehmend an Bedeutung gewonnen. Pipeline-Gas ist jedoch auch eine mächtige geopolitische Waffe, da Pipelines nicht einfach verlegt werden können und der Bau neuer Pipelines Jahre dauert. Diese Inflexibilität bestraft Käufer und Verkäufer, wenn die Ströme abreißen, es sei denn, sie haben bereitstehende Alternativen. LNG schafft zwar eine gewisse Flexibilität, aber es bleibt ein begrenzter Markt. Deutschland, das zuvor eine weitere Nord-Stream-Pipeline unterstützt hatte, drängt nun auf den Bau von LNG-Anlagen.

Im vergangenen Winter befürchtete Europa, dass ihm das Gas ausgehen könnte, nachdem Gazprom seine Lagerbestände in der Region ungewöhnlich niedrig gehalten hatte. Dies erwies sich als Vorgeschmack auf die Dinge, die da kommen. Wenn die Nord-Stream-Leitungen weiterhin nur zu 45 Prozent ausgelastet sind, dürften die europäischen Speicher Anfang November zu 69 Prozent gefüllt sein. Kommt es zu einer vollständigen Abschaltung, würden die Speicher nach Schätzungen von Wood Mackenzie bei etwa 60 Prozent liegen. "In beiden Fällen werden die Lagerbestände im Laufe des Winters zur Neige gehen, sofern keine anderen Maßnahmen zur Deckung der Nachfrage oder des Angebots ergriffen werden", so Kateryna Filippenko, Analystin bei der Beratungsfirma.


   Kohle und Kernkraft erleben eine Renaissance 

Die EU hat einen Plan. Sie hat Gas in anderen Ländern gekauft, und weiterer Druck wird die LNG-Preise wieder in die Höhe treiben, insbesondere wenn China die pandemiebedingten Lockdowns aufhebt. Europa baut auch mehr Anlagen für erneuerbare Energien und installiert energiesparende Geräte, aber all das braucht Zeit. Am anderen Ende des grünen Spektrums sind viele Länder dabei, Kohlekraftwerke wieder in Betrieb zu nehmen oder deren Laufzeit zu verlängern. Es gibt Anzeichen dafür, dass Deutschland sogar in Erwägung ziehen könnte, seine Kernkraftwerke länger laufen zu lassen. Das Problem hat sich durch erhebliche Ausfälle in Frankreichs Kernkraftwerken noch verschärft.

Zwar hat jedes europäische Land seinen eigenen Notfallplan, doch ist der deutsche Ansatz besonders wichtig für die Wirtschaft der Region. "Der jüngste Schritt bedeutet, dass die Gasunternehmen nicht mehr zu den alten vertraglich vereinbarten Preisen verkaufen müssen", erläutert Analyst Sam Arie von der UBS. Das ist eine gute Nachricht für die Gasversorger, aber ein Nachteil für die Großverbraucher. Diese können entweder den Verbrauch senken oder versuchen, den Preisanstieg weiterzugeben, was die Inflation weiter anheizt.

Wenn das Gas in den Pipelines nicht mehr fließt, wird es rationiert, wobei Haushalte und kritische Infrastrukturen Vorrang haben werden. Viele industrielle Nutzer würden mit höheren Kosten und Lieferkürzungen konfrontiert, einige könnten ganz abgeschaltet werden. Mehr Inflation scheint sicher, Arbeitsplatzverluste und Rezession sehr wahrscheinlich. Georg Zachmann von der Denkfabrik Bruegel warnt, dass in Deutschland insgesamt "eher Schnellschüsse stattfinden als dass ein gut durchdachter Plan umgesetzt wird. "Wenn man bedenkt, wie wenig Zeit wir noch bis zum Winter haben, ist das Ausmaß der Panik eigentlich überraschend gering."

Früher sah man in Berlin nur ein verschwindend geringes Risiko, dass Russland den Hahn zudreht. Diese Aussichten haben sich schnell und dramatisch geändert. Leider gilt das nicht für Europas Energieoptionen.

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June 24, 2022 03:35 ET (07:35 GMT)