Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)--Im Winter und Frühjahr könnte es eng werden mit Deutschlands Gasversorgung. Die Bundesregierung arbeitet an verschiedenen Maßnahmen, um den Verbrauch einzuschränken und die Füllstände der Gasspeicher zu erhöhen. Laut Bundesnetzagentur reichen Deutschlands aktuelle Gasreserven im Fall eines durchschnittlich warmen Winters lediglich ein bis zwei Monate, sofern die Lieferverpflichtungen an europäische Nachbarn eingehalten und keine weitere russischen Gaslieferungen kommen. Für dieses Szenario bereitet man sich vor. Hier ist ein Überblick.


   1. Ein Tag mit ungewissem Ausgang 

Am 11. Juli wird die Gaspipeline Nord Stream 1 gewartet. Üblicherweise dauert es rund 10 Tage, in denen kein Gas über die Gasröhre nach Deutschland kommt. Seit einigen Wochen hat Russland die Gaslieferungen über Nord Stream 1 bereits um 60 Prozent gedrosselt. Jüngste Äußerungen von Russlands Präsident Wladimir Putin haben in Berlin die Sorge ausgelöst, dass diese Gaslieferungen kommende Woche dauerhaft eingestellt werden. Dann hat Deutschland ein Problem. Oder wie Bundesnetzagentur-Chef Klaus Müller es der Wirtschaftswoche sagt: Dann kann es im Herbst, Winter oder Frühling zu einer Gasmangellage kommen. Denn Deutschlands Gasspeicher müssen laut Bundesregierung zum 1. November mindestens zu 90 Prozent gefüllt sein, damit das Land einigermaßen über den Winter kommt. Aktuell ist der Füllstand aber nur bei 61,85 Prozent.


   2. Speicherfüllung könnte mehr kosten 

Die Bundesregierung hat daher 15 Milliarden Euro bereitgestellt, damit die sognannte marktgebietsverantwortliche "Trading Hub Europe" Gas zukauft und die Speicher füllt. Besonders Deutschlands größter Gasspeicher im niedersächsischen Rehden mit einer Kapazität von 3,9 Milliarden Kubikmetern ist noch weit von der Zielmarke von 90 Prozent Füllstand entfernt. Der Speicher, der den Jahresverbrauch von etwa 2 Millionen Einfamilienhäuser deckt, gehörte bis ins Frühjahr Gazprom und war nahezu leer. Aktuell liegt der Füllstand bei rund 21,33 Prozent. Fraglich ist aber, ob die 15 Milliarden Euro ausreichen, um Rehden und andere Gasspeicher wie etwa Wolfersberg in Bayern zu befüllen. Laut Bundesnetzagentur wurden bei den bereitgestellten 15 Milliarden Euro mit einem Gaspreisniveau von 80 bis 85 Euro pro Megawattstunden kalkuliert. Seit der Reduzierung der russischen Gaslieferungen über Nord Stream 1 liegen die Preise aber deutlich darüber, zum Teil bei über 130 Euro. Das Geld könnte also knapp werden.


   3. Energieimporteure schlagen Alarm 

Für die Unternehmen, die Gas importieren, geht es bereits ans Eingemachte. Die Bundesnetzagentur hat im April die Kontrolle über die frühere Gazpromtochter Gazprom Germania übernommen. Der Eigentümer des Gas-Großhändler Wingas und des Gasspeicherbetreiber Astora läuft nun unter dem Namen "Securing Energy for Europe". Im Juni hat die Bundesregierung dem Unternehmen bereits mit einem Milliardenkredit unter die Arme gegriffen, um eine Insolvenz abzuwenden. Auch der Versorger Uniper hat Alarm geschlagen. Die Kosten für den Einkauf von Gas sind gestiegen, aber wegen bestehender Verträge kann das Unternehmen die Kosten laut Gesetz nicht einfach an die Kunden weitergeben. Das Unternehmen hat beim Staat um Stabilisierungsmaßnahmen angefragt. Zunächst kann es auf einen 2-Milliarden-Euro-Kredit der KfW zurückgreifen, den das Unternehmen bislang noch nicht gezogen hat. Aber das alleine dürfte nicht ausreichen.


   4. Preisweitergabe neu regeln 

Viele Versorger setzen daher auf eine Änderung des Paragraf 24 des Energiesicherungsgesetzes, das die Weitergabe der gestiegenen Energiepreise regelt. Aktuell können sie nämlich die jüngsten Preissteigerungen bei ihren Energieimporten nur schwer an ihre Kunden weiterreichen. Denn für die Ziehung des Paragrafen 24 ist es nötig, dass die Bundesnetzagentur eine erhebliche Reduzierung der Gesamtgasimportmengen feststellt, um dann den Paragrafen zu aktivieren. Es wird in Deutschland aber noch Gas eingespeichert, wenn auch immer weniger. Gleichzeitig sind die Kosten für die Gasbeschaffung massiv gestiegen. Sollten die Preisanpassungen aber unmittelbar an Privat- und Industriekunden weitergegeben werden, könnte das erheblich Auswirkungen haben, samt Zahlungsausfälle und sozialer Tumulte. Daher wird im Bundeswirtschaftsministerium über eine Änderung des Energiesicherungsgesetzes nachgedacht, um die Lasten der Preissteigerungen fairer zu verteilen. Noch ist der Gesetzentwurf in der Ressortabstimmung und der Inhalt des Gesetzes ist im Fluss. Aber die Stoßrichtung ist klar: Verbraucher und Industrie werden mehr zahlen müssen. Denkbar ist auch eine Liquiditätsabsicherung für kommunale Energieversorger.


   5. Schmerzhafte Gasmangellage 

Bislang ist für Deutschland bei der Versorgunglage lediglich die Alarmstufe ausgelöst worden. Diese sieht eine erhebliche Verschlechterung der Gasversorgungslage. Aber der Markt ist gleichzeitig noch in der Lage, diese Störung selbst zu bewältigen, ohne dass der Staat eingreifen muss. Die höchste Warnstufe des Notfallplans Gas - die "Notfallstufe" - wurde noch nicht ausgerufen. Voraussetzung dafür ist Gasknappheit. Dann würde der Staat in den Gasmarkt eingreifen. In der Notfallstufe übernimmt die Bundesnetzagentur die Rolle des "Bundeslastverteilers" und entscheidet über die Gaszuteilung. Vielen Unternehmen und Freizeiteinrichtungen könnte der Gashahn zugedreht werden. Außerdem wird dann ein Auktionsmodell aktiviert, bei dem Unternehmen Gas über den Markt abgeben können. Organisiert von der Trading Hub Europe können Firmen auf der Plattform angeben, zu welchem Preis sie bereit sind, auf Gas zu verzichten. Wer am wenigsten fordert, bekommt den Zuschlag und die Trading Hub Europe kann die Gasmenge anderweitig zur Abwendung eines Gasengpasses verwenden. Wenn das nicht funktioniert, muss die Bundesnetzagentur entscheiden und Unternehmen den Gashahn zudrehen. Privathaushalte und soziale Einrichtungen sollten geschützt sein. Es wäre ein ungemütlicher Winter.

Kontakt zur Autorin: andrea.thomas@wsj.com

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July 04, 2022 10:22 ET (14:22 GMT)