MÜNCHEN (dpa-AFX) - Wenige Monate nach seinem Aufstieg in den Dax muss der Triebwerkbauer MTU die wohl schwerste Krise der Luftfahrtgeschichte meistern. Weil Fluggesellschaften angesichts des Einbruchs im Luftverkehr kaum neue Jets gebrauchen können, haben Boeing und Airbus ihre Produktion deutlich gedrosselt - und MTU kommt nicht umhin, nachzuziehen. Das gilt auch für den Abbau von Arbeitsplätzen. Was bei MTU los ist, was Analysten sagen und wie sich die Aktie entwickelt.

DAS IST LOS BEI MTU:

Die Corona-Krise trifft die Luftfahrt so schwer wie kaum eine andere Branche. Weil Airlines in aller Welt ums Überleben ringen, müssen auch Flugzeug- und Triebwerkshersteller um bestehende und künftige Bestellungen fürchten. Wie Airbus und Boeing hat daher auch der MTU-Vorstand seine im Februar ausgegebenen Geschäftsziele für 2020 im März wieder kassiert und die Dividende für 2019 gestrichen.

"Es wird Jahre dauern, bis der Luftverkehr - und damit die Grundlage unserer Aktivitäten im Serien- und Instandhaltungsgeschäft - wieder das Niveau der Vorkrisen-Jahre erreichen wird", sagte MTU-Chef Reiner Winkler, als er Anfang Juli den Abbau von bis zu 15 Prozent der Jobs im Konzern ankündigte.

Ähnlich wie die Airbus-Spitze baut die MTU-Führung darauf, dass Airlines bestehende Flugzeug-Bestellungen in den meisten Fällen nicht stornieren, sondern die Abnahme neuer Maschinen lediglich ein Stück weit in die Zukunft verschieben. Da MTU vor allem bei Airbus' Mittelstreckenjets der A320neo-Familie dick im Geschäft ist, dürften die Münchner in den vergangenen Monaten mehrfach aufgeatmet haben.

So kassierte Airbus in den Monaten April bis Ende Juni lediglich die Stornierung eines einzigen Jets. Damit schlug sich der europäische Hersteller deutlich besser als sein US-Rivale Boeing, bei dem Kunden im ersten Halbjahr gleich 355 Exemplare des Mittelstreckenjets 737 Max abbestellten, der nach zwei tödlichen Abstürzen noch immer nicht wieder abheben darf. Allein im Juni kamen bei Boeing 60 Stornierungen hinzu. Der Billigflieger Norwegian zog zudem eine Order über fünf Boeing-Langstreckenjets des Typs 787 "Dreamliner" zurück.

Im ersten Quartal hatte sich die Krise bei MTU kaum in den Zahlen niedergeschlagen. Ab dem zweiten Quartal dürften sie sich aber auch in den Ergebnissen zeigen, hatte Vorstandschef Winkler Ende April angekündigt. So hatte MTU den Betrieb an den Standorten in Deutschland und Polen ab Ende März für drei Wochen ausgesetzt und danach nur schrittweise wieder hochgefahren. Im Konzern gilt Kurzarbeit.

Wie der Airbus-Konzern, der bis Sommer 2021 weltweit rund 15 000 Arbeitsplätze in seiner Verkehrsflugzeugsparte streichen will, kommt auch MTU entgegen anfänglicher Aussagen um einen Stellenabbau nicht herum. Anfang Juli kündigte das Unternehmen an, bis Ende kommenden Jahres 10 bis 15 Prozent der Jobs zu streichen. Das soll ohne Entlassungen gelingen. Der Vorstand setzt auf freiwillige Vereinbarungen wie Altersteilzeit, Vorruhestandregelungen und andere Angeboten. Ende März beschäftigte MTU weltweit knapp 10 800 Mitarbeiter, ein Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

Um sicher durch die Krise zu kommen, wollte das Unternehmen zudem Kreditlinien bei den Banken aufstocken. Ende Juni sammelte MTU zudem 500 Millionen Euro mit einer Unternehmensanleihe ein, die fünf Jahre läuft. Den Anlegern winkt eine jährliche Verzinsung von drei Prozent. Ein Staatskredit der Förderbank KfW war für MTU-Finanzchef Peter Kameritsch zuletzt kein Thema: "Wir denken, dass wir selbst ohne KfW-Unterstützung gut durchkommen."

Unterdessen erwartete der Vorstand, dass vor allem die Nachfrage im Serien- und Ersatzteilgeschäft für Passagierflugzeuge deutlich zurückgeht. Auch in der Triebwerkwartung geht er für das zweite und dritte Quartal von einer rückläufigen Nachfrage aus. Im Militärgeschäft, wo MTU an den Antrieben für den Kampfjet Eurofighter und den Militärtransporter Airbus A400M beteiligt ist, rechnet der Vorstand hingegen kaum mit negativen Auswirkungen.

DAS MACHT DIE AKTIE:

Nach einem jahrelangen Höhenflug wurde die MTU-Aktie im September 2019 in den Dax aufgenommen. Anders als die Aufsteiger in den Jahren davor, die sich nach der Aufnahme in den deutschen Leitindex erst einmal schwer mit weiteren Kursgewinnen taten, ging es für MTU weiter bergauf. Ende Januar, kurz bevor die Corona-Krise die Aktienmärkte richtig erfasste, erreichte der Kurst mit 289,30 Euro einen Höchststand. Doch ab Mitte Februar ging es auch für MTU steil nach unten, bis die Aktie Mitte März mit 97,76 Euro ihr Krisentief erreichte.

Wer seine Anteile zu diesem Zeitpunkt verkaufte, dürfte sich danach gründlich geärgert haben. Zwar ist das Rekordhoch auch jetzt noch weit entfernt. Zuletzt wurde die MTU-Aktie jedoch zu Kursen um die 145 Euro gehandelt, so dass Anleger seit dem Tief im Corona-Crash ein Plus von fast 50 Prozent einfahren konnten. Und im Juni konnte man eine MTU-Aktie kurzzeitig sogar für bis zu 187,75 Euro versilbern.

MTU wurde 2005 vom Finanzinvestor KKR, der das Unternehmen drei Jahre zuvor von Daimler beziehungsweise damals noch DaimlerChrysler gekauft hatte, zu 21 Euro je Aktie an die Börse gebracht. Wer das Papier seitdem gehalten hat, kann sich also über eine Wertsteigerung von fast 600 Prozent freuen. Zum Vergleich: Der Dax legte in diesem Zeitraum gerade mal 175 Prozent zu.

An der Börse wird MTU derzeit mit 7,8 Milliarden Euro bewertet und gehört damit zu den kleinsten Werten im deutschen Leitindex. Dahinter liegen lediglich noch der Kunststoff-Spezialist Covestro (6,6 Mrd Euro) und der nach einem Bilanzskandal in die Pleite geschlitterte Zahlungsdienstleister Wirecard (250 Mio Euro), der spätestens im September aus dem Dax fliegen dürfte.

DAS SAGEN ANALYSTEN:

Trotz der Krise bleibt MTU nach Einschätzung von Branchenexperten von roten Zahlen ein gutes Stück entfernt. Wenn der Triebwerkbauer wie geplant am Montag (3. August) seine Zahlen zum zweiten Quartal vorlegt, rechnen vom Unternehmen selbst befragte Analysten im Schnitt mit einem Umsatzeinbruch um ein Drittel auf 741 Millionen Euro. Der operative Gewinn (bereinigtes Ebit) dürfte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 73 Prozent auf 48 Millionen Euro zusammengesackt sein. Beim bereinigten Überschuss erwarten sie einen Rückgang um 76 Prozent auf 30 Millionen Euro.

Auch auf das Gesamtjahr gesehen dürfte MTU weit von den Rekordzahlen von 2019 entfernt bleiben. So gehen Analysten für 2020 im Schnitt von einem Umsatzrückgang um 22 Prozent auf 3,6 Milliarden Euro aus. Der operative Gewinn dürfte um 48 Prozent auf 392 Millionen Euro einbrechen. Für den bereinigten Überschuss sagen sie einen Rückgang um 44 Prozent auf 267 Millionen Euro voraus.

Schon im vergangenen Jahr hatten viele Analysten dem Höhenflug der MTU-Aktie nicht getraut. Auch wenn sie die Perspektiven des Unternehmens positiv einschätzten, war der Kurs aus ihrer Sicht bereits merklich über die Schwellen hinausgeschossen, die sie für angemessen hielten. Nach Crash in der Corona-Krise und der teilweise erfolgten Kurserholung haben sich ihre Empfehlungen noch stärker zum Negativen gedreht.

Von den elf im dpa-AFX Analyser erfassten Experten, die sich seit der Zwischenbilanz fürs erste Quartal Ende April zur MTU-Aktie geäußert haben, empfiehlt nur einer das Papier zum Kauf. Je fünf Analysten raten zum Halten beziehungsweise zum Verkauf. Im Schnitt schreiben sie der Aktie ein Kursziel von rund 134 Euro zu. Der jüngste Kurs liegt bereits mehr als zehn Euro darüber.

Mit einem Kursziel von 107 Euro ist Analyst David Perry von der US-Großbank JPMorgan der pessimistischste in der Reihe. Dabei hat er sein Ziel erst vor wenigen Tagen deutlich angehoben - weil er die Ergebnisentwicklung bei dem Triebwerkbauer inzwischen deutlich positiver einschätzt als zuvor. Das ändert aber nichts daran, dass er zum Verkauf der Aktie rät. Auch sein Kollege Florent Dehlinger von der schweizerischen Großbank UBS, der sein Kursziel jüngst auf 144 Euro angehoben hatte, kann sich nur zu einer "Halten"-Empfehlung durchringen. So hat er seine Gewinnschätzungen für die Zeit ab dem Jahr 2022 angehoben.

Das höchste Kursziel findet sich mit 175 Euro derzeit bei Analyst Richard Schramm von der britischen Großbank HSBC. Insgesamt seien die kurzfristigen Aussichten für den unter dem Einbruch des Flugverkehrs leidenden Konzern trüber geworden, das Erholungspotenzial aber attraktiv, schrieb er schon Ende April und riet zum Kauf der MTU-Aktie./stw/zb/he