DARMSTADT (dpa-AFX) - Beim Pharma- und Spezialchemiehersteller Merck KGaA ist die Personalrochade in der Unternehmensleitung eingeläutet. Im kommenden Jahr rückt mit Belén Garijo eine Frau an die Spitze des Darmstädter Traditionskonzerns. Der schifft derzeit besser als zunächst erwartet durch die schwere See der Corona-Pandemie. Zur Lage des Unternehmens, was die Analysten sagen und was die Aktie macht.

LAGE DES UNTERNEHMENS:

Dass Belén Garijo den amtierenden Konzernchef Stefan Oschmann an der Unternehmensspitze beerben würde, hatte sich bereits abgezeichnet: Oschmann, seit 2011 Mitglied der Geschäftsleitung und seit 2016 Merck-Chef, machte im Juli die 60-jährige Leiterin des Pharmageschäft zur Vize-Vorstandschefin des Familienunternehmens. Bis dahin war Oschmann ohne Stellvertreter geblieben. Der langjährige Leiter des Laborgeschäfts Udit Batra, der ebenfalls mit dem Merck-Chefsessel geliebäugelt haben soll, verließ vermutlich genau deshalb das Unternehmen. Garijo soll ab Anfang Mai das Ruder übernehmen - nach aktuellem Stand wäre sie damit die einzige Frau an der Spitze eines Dax-Konzerns.

Dem allseits ruhig und nonchalant auftretenden Oschmann dürfte Garijo in ihrer fachlichen Kompetenz und ihren Führungsqualitäten in nichts nachstehen. Die studierte Medizinerin hat nach ihren Anfangsjahren in einem Madrider Krankenhaus den größten Teil ihres Berufslebens in der Pharmaindustrie verbracht, wo sie die Karriereleiter konsequent weiter nach oben stieg. Oschmann selbst holte Garijo 2011 vom französischen Anbieter Sanofi zu Merck, 2015 übernahm sie dort die Leitung der Pharmasparte. Dabei gilt das Duo Oschmann/Garijo unter Beobachtern als Lebensretter des Pharmageschäfts. Lange Jahre brachte die Sparte keine eigenen Arzneien mehr hervor, wichtige Produkte wie etwa das Multiple-Sklerose-Mittel Rebif wurden durch Konkurrenz bedroht.

Doch inzwischen ist das Pharmageschäft konsequent entrümpelt und umgebaut. Merck trennte sich von Teilbereichen wie den rezeptfreien Medizinprodukten, dem Allergiegeschäft und den sogenannten Biosimilars, Nachahmermitteln biologisch - also durch lebende Organismen - hergestellter Präparate. Gleichzeitig fokussiert sich der Konzern in seiner Medikamentenpipeline nun konsequent auf wenige Bereiche wie das Multiple-Sklerose-Geschäft und die Krebsforschung.

Die Umsätze allein durch die neuen Medikamente, so bestätigte der Konzern zuletzt, sollen im Jahr 2022 rund zwei Milliarden Euro ausmachen. Wachstumspotenzial sieht Merck aber auch weit über dieses Jahr hinaus. So hat das Unternehmen inzwischen mit dem Krebsmedikament Bavencio und der MS-Tablette Mavenclad Hoffnungsträger aus eigener Forschung auf dem Markt. Zudem stecken in der Medikamentenpipeline einige Mittel vor allem aus der Onkologie, über die Mercks Forscher - und auch einige Analysten - zuletzt ins Schwärmen gerieten.

Oschmann dürfte sich die Amtsübergabe womöglich aber etwas geschmeidiger vorgestellt haben. Denn die Corona-Krise machte seinem Vorhaben, auch in der Sparte für Spezialmaterialien das Ruder herumzureißen, zumindest für dieses Jahr einen dicken Strich durch die Rechnung. Der Konzernchef hatte im vergangenen Jahr mit den Zukäufen des US-Halbleiterausrüsters Versum Materials und des kalifornischen Materialspezialisten Intermolecular die Fokussierung auf das Halbleitergeschäft in der Sparte eingeläutet. Grund waren die Umsatzeinbußen im lange Jahre wichtigen Geschäft mit Flüssigkristallen etwa für Displays und Smartphones - diese Aktivitäten leiden jedoch seit geraumer Zeit unter dem Preisdruck durch asiatische Konkurrenz.

Zuletzt kamen wegen der Corona-Pandemie und der dadurch mauen Nachfrage auch noch Probleme im kleinsten Bereich der Materialsparte hinzu, dem Geschäft mit Farbpigmenten etwa für die Auto- und Kosmetikindustrie. Und selbst im Laborgeschäft, das seit der 2015 erfolgten Übernahme des US-Anbieters Sigma Aldrich boomt, lief es plötzlich in einigen Bereichen nicht mehr rund.

Inzwischen haben sich die Geschäfte aber wieder spürbar belebt, daher konnte Oschmann bereits seine Jahresziele anheben. Und auch mittelfristig verbreitete der Manager auf dem jüngsten Kapitalmarkttag reichlich Zuversicht. Er sieht in allen drei Geschäftsbereichen starke Möglichkeiten für weiteres Wachstum. Dessen Realisierung liegt künftig in Belén Garijos Hand.

DAS SAGEN DIE ANALYSTEN:

Das durchschnittliche Kursziel der 14 im dpa-AFX Analyser gelisteten Branchenkenner liegt bei rund 116 Euro - und damit unter dem aktuellen Kurs. Insofern ist es wenig verwunderlich, dass mit acht Stimmen die Mehrheit der Experten für das Halten der Aktie votiert und zwei Branchenkenner sogar den Verkauf empfehlen. Immerhin vier Analysten, die hohe Kursziele bis zu 140 Euro aufrufen, raten noch zum Kauf des Papiers.

Die Nominierung von Garijo zur neuen Merck-Chefin hat offenbar auch die Analysten wenig überrascht, denn bislang sah sich keiner der Experten zu einem konkreten Kommentar veranlasst. Vielmehr drehen sich die jüngsten Studien um den Kapitalmarkttag, auf dem der Vorstand sein mittelfristiges Wachstum beschwor.

Von den positiven Signalen ließen sich auch einige Analysten anstecken, etwa Peter Verdult von der US-Bank Citigroup und Peter Spengler von der DZ Bank - beide hoben ihre Gewinnprognosen und ihr Kursziel beziehungsweise den fairen Wert für die Aktie. "Das erfolgreiche Portfolio-Management und die strategische Konzernneuausrichtung von 2016 bis 2022 zahlen sich bisher aus", schrieb Spengler jüngst in seiner Studie.

Andere Experten kommentierten insbesondere die Aussagen zur Pharmapipeline: So stellte etwa Krishna Chaitanya Arikatla von der US-Bank Goldman Sachs lobend heraus, dass Merck auch Hoffnung für Wirkstoffe verbreitet habe, die sich noch in der frühen Forschung befänden.

Analyst Dennis Berzhanin von Pareto Securities sieht zwar "exzellente Chancen" in der Forschungspipeline von Merck, aus seiner Sicht aber spielt derzeit mehr die Entwicklung der bereits am Markt befindlichen neuen Medikamente eine Rolle. So sorgt sich der Experte etwa um die Entwicklung der MS-Tablette Mavenclad, deren Neuverschreibungen wegen ihrer unterdrückenden Wirkung auf das Immunsystem vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie zeitweise ins Stocken geraten waren.

DAS MACHT DIE AKTIE:

In den vergangenen Jahren hat die Merck-Aktie neben zahlreichen Höhen auch so einige Tiefen erlebt, insbesondere als die Probleme in der Sparte für Spezialmaterialien offenbar wurden. Dennoch ist Merck an der Börse immer schwerer geworden. Erst kürzlich erreichte die Aktie in der zweiten Septemberhälfte ein Rekordhoch bei 128,65 Euro. Aktuell notiert sie nur wenige Euro darunter, dabei kommt der Konzern auf einen Börsenwert von knapp 55 Milliarden Euro.

Die langjährige Strategie des Vorstands, den Konzern in allen drei Sparten auf neue und moderne Technologien auszurichten, zahlt sich damit wohl aus. Allein seit Oschmanns Amtsantritt Ende April 2016 hat das Merck-Papier um mehr als 50 Prozent zugelegt.

Auch der Corona-Crash ist längst verdaut. Mitte März war die Aktie bis auf ein Tief von rund 76 Euro gefallen. Investoren, die zu diesem Zeitpunkt eingestiegen waren, können sich nun über einen Gewinn von etwa 65 Prozent freuen. Seit Jahresbeginn liegt die Aktie immerhin mit fast einem Fünftel im Plus.

Damit ist sie derzeit eine der besten fünf Werte im Dax und läuft dem Gesamtmarkt weit davon. Das Börsenbarometer ist mittlerweile wieder unter die Marke von 13 000 Punkten gefallen und gerechnet seit Jahresbeginn steht im Leitindex ein Minus von rund fünf Prozent zu Buche./tav/knd/he