Von Stefanie Haxel

FRANKFURT (Dow Jones)--Er gilt als Pest des 21. Jahrhunderts: Der allgegenwärtige Plastikmüll. Pro Jahr fallen laut einer Studie der University of California weltweit rund 380 Millionen Tonnen davon an. Was damit tun? Zwei Wissenschaftler in den USA erproben seit September, wie sich Plastikmüll in ein Nahrungsmittel verwandeln lässt - genauer: in Proteinpulver.

Das gemeinsame Projekt von Bioingenieur Ting Lu von der University of Illinois und von Mikrobiologe Stephen Techtmann von der Michigan Technological University befindet sich noch in der Forschungsphase, die ersten Ergebnisse aber sind vielversprechend. "Ich denke, wir haben einen Machbarkeitsnachweis erbracht", sagte Techtman im Gespräch mit Dow Jones Newswires.

Für ihre Arbeit wird Lu und Techtmann am Dienstag der mit 1 Million Euro dotierte "Future Insight Price" des Darmstädter Pharma- und Spezialchemiekonzerns Merck verliehen. Merck zeichnet mit dem seit 2019 jährlich verliehenen Forschungspreis Wissenschaftler aus, die außerordentliche Beiträge leisten, um für die Zukunft der Menschheit wichtige Innovationen in den Kategorien Gesundheit, Ernährung und Energie zu ermöglichen.

Was zunächst verrückt klingt, basiert im Grunde auf einer raffinierten chemischen Akrobatik. "Kunststoff ist eine Zusammensetzung aus verschiedenen chemischen Elementen wie Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff", sagte Lu. "Lebensmittel sind von ihrem Aussehen her eine völlig andere Art von Materie; chemisch gesehen bestehen sie jedoch ebenfalls aus Kohlenstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und anderen Elementen."

Insofern drehen sich die Forschungen um die Wandlung der chemischen Elemente von einer plastischen Form in eine Lebensmittelform. Kunststoff selbst sei wegen seiner langen Polymerketten zwar biologisch nicht gut abbaubar, seine Bausteine aber sehr wohl, so Techtmann.

Bei dem Verfahren der beiden Wissenschaftler werden in einem chemischen Prozess zunächst die Polymerketten zerlegt. Eine dabei entstehende Verbindung wird anschließend an Bakterien aus Techtmanns Labor verfüttert. Die dabei entstehenden Zellen - zu etwa 55 Prozent bestehen sie aus Protein - werden geerntet, getrocknet und gemahlen.


    Ein Produkt ähnlich dem aus der Fitnessbranche 

Das Endprodukt, dessen Sicherheit die Forscher zurzeit testen, sei dem in Fitnessstudios erhältlichen Proteinpulver nicht unähnlich. "Was wir herstellen konnten, sieht ein bisschen aus wie brauner Zucker. Es ist etwas körniger als die Produkte aus dem Supermarkt", sagte Techtmann. Auch die Produktion von Energieriegeln sei vorstellbar, fügte sein Kollege Lu hinzu.

Obwohl das Projekt noch am Anfang steht, finden bereits Gespräche mit der US-Gesundheitsbehörde FDA statt. Die Forscher wollen sicherstellen, dass ihr Produkt am Ende auch als sicherer Lebensmittelzusatz anerkannt wird und damit in der sogenannten GRAS-Liste ("Generally Recognized As Safe") erscheint und also allgemein als sicher eingestuft wird.

Das Preisgeld von Merck wollen Lu und Techtmann in einem ersten Schritt dazu nutzen, den gesundheitlichen Nutzen ihres Produkts noch zu erhöhen. Es soll nicht nur Protein liefern, sondern auch weitere gesunde Bestandteile bekommen, etwa ungesättigte Fettsäuren oder größere Mengen an Aminosäuren. Dazu werden die Bakterien aus Techtmanns Labor mit makrobiotischen Bakterien zusammengebracht, die Bioingenieur Lu gezüchtet hat.

"Wir haben eine Reihe von mikrobiellen Konsortien modifiziert, die PET, einen gängigen Kunststoff für Wasserflaschen, abbauen und in Biomasse als neue Nahrungsquelle umwandeln", sagte Lu. "Darüber hinaus entwickeln und konstruieren wir Probiotika, zum Beispiel Milchsäurebakterien, die üblicherweise an der Fermentierung von Käse und Joghurt beteiligt sind." Mit Hilfe dieser "Designer-Probiotika" lasse sich die Qualität von Lebensmitteln verbessern, indem ihr Nährwert erhöht, ihre Lagerzeit sowie Resistenz gegen Krankheitserreger verbessert und sogar maßgeschneiderte therapeutische Wirkungen eingebaut werden.


   Das Pentagon gab den Anstoß 

Angestoßen wurde das Projekt ursprünglich durch eine Ausschreibung der Forschungsabteilung des Pentagons, die es auch mit 7,2 Millionen Dollar förderte. Die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) suchte nach Möglichkeiten zur Verwertung des Abfalls der US-Armee.

Das Interesse der Militärs gelte allerdings nicht in erster Linie einem Produkt, das in den Regalen eines Lebensmittelgeschäfts seinen Platz finden sollte, sondern einem skalierbaren Prozess für die Nahrungsmittelerzeugung, sagte Techtmann. Dieser Prozess sollte etwa in der Katastrophenhilfe zum Einsatz kommen können, um eine überschaubare Gruppe von Menschen für einen beschränkten Zeitraum zu ernähren.

Die Technologie könnte darüber hinaus eine zusätzliche Option für das Recycling von Abfällen im Allgemeinen werden. Schätzungen der University of California zufolge fielen von Anfang der 1950er Jahre bis 2015 weltweit mehr als 6,3 Milliarden Tonnen Plastikmüll an. Davon wurden nur etwa 9 Prozent recycelt und weitere 12 Prozent verbrannt, der Rest landete auf Mülldeponien oder in der Umwelt. Und Kunststoffabfälle werden immer mehr: Bis 2050 dürften den Prognosen zufolge insgesamt 34 Milliarden Tonnen Plastik produziert werden.

"Im Moment wird Plastik als Abfall betrachtet, aber wenn wir es dadurch wertvoll machen können, dass wir es in Lebensmittel verwandeln, würde ein Großteil davon aus der Umwelt herausgehalten", sagte Techtmann. "Das wäre großartig."

Die beiden Wissenschaftler hoffen, in naher Zukunft Partner aus der Industrie zu finden, die bei der Kommerzialisierung der Technologie und bei der Entwicklung von Geschäftsideen helfen können. Bis aus ihrem Projekt ein großtechnisch angewandtes Verfahren wird, können allerdings noch Jahre ins Land gehen.

Mit dem Preisgeld von Merck haben die beiden Preisträger noch weitere Pläne: Über die Verbesserung ihres Produkts hinaus wollen sie ihre Forschung auch auf andere Abfälle ausweiten, beispielsweise auf Lignocellulose - also Zellwände verholzter Pflanzen, die für den Menschen nicht essbar sind.

"Wir bauen Mais oder andere Feldfrüchte an, und es gibt so viel von der Pflanze, das einfach nur Abfall wird", sagte Techtmann. Die Technologie ist im Grundsatz die Gleiche: "Durch die Modifizierung und Anpassung verschiedener Kombinationen von Mikroben hoffen wir, die Plattform für die Umwandlung verschiedener Abfälle auf vielseitige Weise nutzen zu können", so Forschungspartner Lu.

Kontakt zur Autorin: stefane.haxel@wsj.com

DJG/sha/rio

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July 13, 2021 09:00 ET (13:00 GMT)