--EuGH: EU-Recht schützt Interessen des einzelnen Käufers

--Landgericht Ravensburg muss nun über Klage entscheiden

(Neu: Stellungnahmen u.a. von Mercedes, DUH, KBA)

LUXEMBURG (AFP)--Im Streit um das sogenannte Thermofenster in Dieselfahrzeugen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg ein verbraucherfreundliches Urteil gefällt: Autokäufer können gegenüber dem Hersteller einen Anspruch auf Schadenersatz haben, wenn ihnen wegen einer im Fahrzeug verbauten unzulässigen Abschalteinrichtung zur Abgasreinigung ein Schaden entstanden ist. Das EU-Recht schütze die Interessen des einzelnen Käufers, erklärte der EuGH am Dienstag. (Az. C-100/21)

Der EuGH antwortete auf Fragen des Landgerichts Ravensburg. Dieses muss über eine Klage gegen Mercedes-Benz wegen des Thermofensters entscheiden.

Mit der in vielen Modellen verschiedener Hersteller verwendeten Software wird die Abgasreinigung in Dieselfahrzeugen abhängig von der Außentemperatur gesteuert. Außerhalb eines bestimmten Temperaturfensters, also bei höheren und niedrigeren Temperaturen, stoßen die Wagen dann mehr Schadstoffe aus. Der EuGH entschied bereits in einem früheren Urteil, dass es sich beim Thermofenster um eine unzulässige Abschalteinrichtung handle.

Er ließ aber eine Ausnahme zu, nämlich wenn der Motor und somit die Insassen damit vor plötzlich auftretenden Gefahren geschützt würden und es dazu keine Alternative gebe. Auch dann wäre eine solche Abschalteinrichtung aber nicht erlaubt, wenn sie meistens unter normalen Bedingungen laufen müsse. Nun erklärte der EuGH, für den vorliegenden konkreten Fall müsse das Ravensburger Gericht selbst feststellen, ob die Technik in diesem Wagen als unzulässig einzustufen sei.

Der Gerichtshof in Luxemburg wies darauf hin, dass eine Typgenehmigung nur erteilt werden dürfe, wenn das Auto der EU-Verordnung über Schadstoffe entspreche. Der Hersteller sei dazu verpflichtet, dem einzelnen Käufer eine Bescheinigung darüber auszuhändigen. Damit würde bestätigt, dass der Wagen zum Zeitpunkt des Baus mit dem Recht im Einklang stehe. Die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten müssten nun Vorschriften für Schadenersatz festlegen, erklärte der EuGH.

Den Autobauern zufolge ist die Technik notwendig, um den Motor vor Verschleiß, Verschmutzung und Beschädigung zu schützen. Kunden wiederum argumentieren vor Gerichten damit, dass sie das Auto nicht gekauft hätten, wenn sie von einer unzulässigen Abschalteinrichtung gewusst hätten. Die Hersteller hätten die Einhaltung der Schadstoffgrenzwerte nur vorgespiegelt, um die Betriebserlaubnis zu erhalten.

Höchstrichterlich wurden Schadenersatzansprüche wegen des Thermofensters in Deutschland bislang verneint. Der Bundesgerichtshof sah hier - anders als bei der Betrugssoftware im sogenannten Dieselskandal - keine vorsätzliche Schädigung der Käufer durch die Hersteller, sondern höchstens Fahrlässigkeit. Nach dem neuen EuGH-Urteil könnte ein auch fahrlässiges Verhalten für Schadenersatzansprüche genügen.

Konkret sichtbar würde ein möglicher Schaden, falls das Kraftfahrtbundesamt (KBA) ein Modell mit Thermofenster zurückrufen würde. Einen solchen Rückruf und Nachrüstung oder Stilllegung fordert beispielsweise die Deutsche Umwelthilfe für einige Wagen. Sie gewann im vergangenen Monat vor dem Verwaltungsgericht in Schleswig einen Rechtsstreit mit dem KBA.

Das Gericht entschied, dass die Freigabe für einige Volkswagen-Modelle durch das KBA 2016 rechtswidrig war, weil mit dem Thermofenster eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut sei. Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig, Berufung oder Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht sind möglich.

Das KBA teilte nach der Entscheidung mit, dass es über weitere Maßnahmen entscheiden werde, sobald es die schriftlichen Urteilsgründe geprüft habe. Diese sind bislang noch nicht veröffentlicht.

Der Bundesgeschäftsführer der Umwelthilfe, Jürgen Resch, kündigte am Dienstag an: "Wir werden mit unseren weiteren Klageverfahren gegen das Kraftfahrtbundesamt sicherstellen, dass alle Betrugsdiesel entweder stillgelegt oder mit einer funktionierenden Abgasanlage nachgerüstet werden."

Mercedes-Benz und Volkswagen betonten die Zuständigkeit nationaler Gerichte. "Es ist nach wie vor die Aufgabe der nationalen Gerichte zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen Schadensersatzansprüche im Lichte der EuGH-Entscheidung nach dem geltenden Recht bestehen", teilte Volkswagen mit. Mercedes betonte: "Wie nationale Gerichte die Entscheidung des EuGH in Bezug auf das nationale Recht anwenden werden, bleibt abzuwarten."

Der Bundesgerichtshof dürfte schon in einigen Wochen für mehr Klarheit sorgen. Insgesamt 1.900 Dieselfälle liegen in Karlsruhe, nicht alle haben mit dem Thermofenster zu tun. Für den 8. Mai hat das Gericht eine Verhandlung angekündigt, in der mögliche Folgen des EuGH-Urteils vom Dienstag für das deutsche Haftungsrecht geklärt werden sollen. Anderen deutschen Gerichten, die ebenfalls auf die Entscheidung aus Luxemburg warteten, sollen so bald wie möglich "höchstrichterliche Leitlinien an die Hand" gegeben werden.

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March 21, 2023 07:48 ET (11:48 GMT)