Das deutsche Unternehmen Flatex startete 1997 als reiner Dienstleister, der damals mit dem Aufbau der IT-Infrastruktur für die Brokerage-Aktivitäten der Bankenverbände und von E-Trade beauftragt wurde. Ein Jahrzehnt später nutzte das Unternehmen sein technologisches Know-how, um seinen eigenen Brokerage-Dienst einzuführen, und erhielt bald darauf eine Banklizenz.

Nach einem erneuten Jahrzehnt organischen Wachstums erreichte Flatex im Jahr 2020 mit der Übernahme des niederländischen Brokers DeGiro einen weiteren Meilenstein.

Chart flatexDEGIRO AG

Die Transaktion wurde zum Teil durch eine Kapitalerhöhung zu 25 Euro pro Aktie finanziert - die Aktie notiert derzeit bei weniger als 20 Euro - und bewertete DeGiro mit dem Vierfachen seines Umsatzes, dem 20-fachen des EBITDA und dem 25-fachen seines Gewinns. Im Vergleich dazu wird das „kombinierte“ Unternehmen flatexDEGIRO auf der Grundlage der Gewinnprognosen für das nächste Jahr derzeit mit dem 3,5-fachen seines Umsatzes, dem 8-fachen seines EBITDA und dem 15-fachen seines Gewinns gehandelt.

Der Markt scheint weniger enthusiastisch zu sein als in der Vergangenheit, auch wenn die bei der Fusion gesetzten Ziele von 200 Millionen Euro Umsatz, 50 Millionen Euro EBITDA und 30 Millionen Euro Gewinn bereits erreicht wurden. Der Umsatz betrug im vergangenen Jahr sogar 256 Millionen Euro und das EBITDA lag bei 100 Millionen Euro. Doch das Management will es nicht dabei belassen und hat sich zum Ziel gesetzt, diese Zahlen in den nächsten zwei Jahren zu verdoppeln, und zwar sowohl durch Kundenwachstum als auch durch eine besonders starke operative Hebelwirkung.

Dank des Zusammenschlusses mit DeGiro konnte der deutsche Broker einen deutlichen Vorsprung vor seinen europäischen Konkurrenten aufbauen - mit Ausnahme des Unternehmens Interactive Brokers, das sich jedoch auf ein stärker spezialisiertes Publikum konzentriert. In klassischer Weise geht es hier darum, die Transaktionskosten pro Einheit durch die Erhöhung des Volumens und die Erzielung von Größenvorteilen zu senken. Damit soll das kaum profitable und hart umkämpfte „Vermittlergeschäft“ in ein überlegenes und konkurrenzloses Dienstleistungsangebot umgewandelt werden.

flatexDEGIRO kokettiert bereits mit dieser Realität, was an seinen Kosten liegt: Sie sind pro Transaktion unvergleichlich niedriger als die der Konkurrenz. In Verbindung mit einer gut konzipierten Plattform und dem Zugang zu allen Finanzmärkten und -instrumenten wurde die Basis für das derzeit größte Kunden-Wachstum gelegt, vor Brokern wie Nordnet und Avanza. Diese beiden sind die führenden Anbieter auf dem skandinavischen Markt - dem rentabelsten und dynamischsten in Europa, was das Brokergeschäft betrifft.

Durch die Fusion von Flatex und DeGiro entstand Europas größter Broker mit 2 Millionen Kunden in 18 Ländern und 40 Milliarden verwalteten Vermögen. Die Kunden sind jung - das Durchschnittsprofil ist zwischen 23 und 49 Jahre alt und hat weniger als 23.000 Euro im Depot - aber sie sind auch sehr aktiv. Im Durchschnitt führen sie 70 Transaktionen pro Jahr durch, was Chancen aber auch Risiken birgt: Risiken, weil dieses Publikum unbeständig volatil ist - Chancen, weil es gleichzeitig ein großes Potenzial gibt, das interessierte Publikum in regelmäßige Anleger zu verwandeln.

Der deutsche Broker verweist auf dreistellige Renditen bei der Kundenakquise und auf den sehr niedrigen Prozentsatz von Kunden (nur 1,4 %), die nicht zurückkehren (die so genannte Abwanderungsrate). Diese Aussagen sind schwer zu überprüfen wenngleich die Werbebudgets bei steigender Zahl an Kontoeröffnungen sinken. Denn sie lassen sich auch durch den geringen Wettbewerbsdruck und den jüngsten Boom an den Finanzmärkten erklären. So sollte die Abwanderungsrate regelmäßig überprüft werden, zum Beispiel wenn Sonderangebote wie sechs Monate kostenloses Trading auslaufen.

Die Wachstumschancen können dennoch als real angesehen werden: Der "unterversorgte" europäische Broker-Markt umfasst 60 Millionen potenzielle Kunden, die ein Depot eröffnen oder ihre Wertpapiere von ihrer traditionellen Bank zu einem billigeren und effizienteren Pure Player übertragen könnten. Obwohl flatexDEGIRO Marktführer auf dem kontinentalen Markt ist, bleibt sein gesamter Marktanteil gering. Aus diesem Grund will die Geschäftsführung die Zahl der Nutzer ihrer Dienste bis 2026 vervierfachen.

Diese Ziele sind natürlich recht ehrgeizig, dem erfolgreichen Management aber durchaus zuzutrauen. Sollten sie tatsächlich erreicht werden und die EBITDA-Marge bei etwa 50 % bleiben, was dank des hohen operativen Leverage von flatexDEGIRO möglich erscheint, könnte das Unternehmen innerhalb von fünf Jahren einen Gewinn vor Abschreibungen in Höhe von 500 Millionen Euro erwirtschaften. Eine Zahl, die der aktuellen Bewertung von 2 Milliarden Euro gegenübergestellt werden sollte.

Das Management geht davon aus, dass es in den nächsten fünf Jahren einen kumulierten operativen Cashflow von 1,5 Milliarden Euro erwirtschaften kann. Da die Investitionsausgaben - auch Capex genannt - gegen Null gehen (schließlich wurden alle Ausgaben für die technologische Infrastruktur in der Gewinn- und Verlustrechnung abgeschrieben), würde dieser Betrag ungefähr dem kumulierten freien Cashflow in diesem Zeitraum gleichkommen, der wiederum drei Viertel der aktuellen Bewertung entspricht.

Die in den letzten zwei Jahrzehnten konsequent getätigten Investitionen in die technologische Infrastruktur verschaffen flatexDEGIRO einen bedeutenden Wettbewerbsvorteil, sowohl in Bezug auf die Kosten als auch auf die Zugänglichkeit. Es ist schwer vorstellbar, wer in Europa in der Lage sein könnte, diesen Vorteil zu wiederholen - mit Ausnahme natürlich von Interactive Brokers, das auf dem "alten Kontinent" fest etabliert ist.

Einerseits wird das Wachstum immer durch die Trägheit der traditionellen Bankkunden und durch das periodische Desinteresse der Öffentlichkeit an den Finanzmärkten begrenzt sein. Andererseits ist viel Potenzial für weiteres Wachstum vorhanden, denn der europäische Markt ist nach wie vor stark fragmentiert, im Gegensatz beispielsweise zu Nordamerika. Dort haben fünf große Anbieter, namentlich IB, Schwab, Vanguard, Fidelity und TD, den Markt vollständig konsolidiert.