Die Produktion in Deutschlands drittgrößtem Industriezweig nach der Autobranche und dem Maschinenbau wuchs zuletzt kaum noch und im Gesamtjahr stellen sich die Unternehmen auf einen deutlichen Rückgang ein. Dass so viele Belastungen auf einmal zusammenkämen, habe man in der Branche noch nicht erlebt, sagte der Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Christian Kullmann, am Mittwoch in Frankfurt. Lange Lieferzeiten, hohe Frachtkosten sowie Engpässe bei Materialien behinderten die Geschäftstätigkeit der Unternehmen. Hinzu kämen die sprunghaft gestiegenen Energie- und Rohstoffkosten sowie eine sinkende Nachfrage im Zuge der hohen Inflation. "Vor diesem Hintergrund bekommt der Standort Deutschland zunehmend ein Wettbewerbsproblem."

Denn Kullmann erwartet, dass Erdgas hierzulande weiter deutlich teurer sein dürfte als in anderen Regionen der Welt. Mit einer spürbaren Entspannung bei den Energie- und Rohstoffkosten rechnet er nicht. Kaum ein Industriezweig ist so stark auf Gas angewiesen wie die Chemie. Sie ist der größte industrielle Energieverbraucher in Deutschland und von den deutlich steigenden Preisen und einem möglichen Stopp der Gaslieferungen aus Russland besonders betroffen. Laut einer Mitgliederumfrage des VCI betrug bei über einem Fünftel der Unternehmen der Anstieg der Rohstoff- und Energiekosten im ersten Halbjahr mehr als 50 Prozent.

KEIN PROFITABLES WACHSTUM AUF SICHT

Die weitere Entwicklung der deutschen Gasversorgung versetzt die Branche in große Sorge. Für die Unternehmen ist Gas nicht nur der wichtigste Energieträger, sondern wird auch in großen Mengen zur Produktion ihrer Produkte benötigt. Vor allem für kleine und mittelständische Unternehmen sei es "eine maximal herausfordernde Zeit mit extremen Unsicherheiten", sagte Kullmann. Gegenwärtig sei aber Gas da, so dass die Branche produzieren könne. Es gehe aber auch um die Frage, zu welchen Preisen. Bei einer Gasmängellage gehe man davon aus, soviel wie möglich für den Fortbestand der Unternehmen zur Verfügung gestellt zu bekommen. "Wenn das nicht der Fall ist, wird das ganz klar zu Produktionsschließungen mit allen Konsequenzen führen", warnte VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup.

Die energieintensiven Industrien bringen sich derzeit für eine Gasnotlage in Stellung und verstärken ihre Lobbyarbeit, falls eine Rationierung ansteht. Denn die Bundesregierung könnte wegen der reduzierten Lieferungen aus Russland die dritte Stufe des Notfallplans Gas aktivieren. Ende Juni war bereits die zweite Stufe ausgerufen worden.

Für dieses Jahr rechnet der VCI mit einem Rückgang der chemisch-pharmazeutischen Produktion um 1,5 Prozent. Für das reine Chemiegeschäft dürfte sogar ein Minus von vier Prozent zu Buche stehen. Bislang hatte sich der Verband keine Prognose zugetraut - die ursprüngliche, die ein Produktionsplus von zwei Prozent vorgesehen hatte, war im März wegen der unabsehbaren Folgen des Kriegs in der Ukraine gestrichen worden. Im ersten Halbjahr stieg die Produktion noch um 0,5 Prozent, ohne Pharma sank sie aber bereits um drei Prozent. Die Kapazitätsauslastung der Anlagen ging auf 80 Prozent zurück.

Die Erzeugerpreise stiegen unterdessen um 21,5 Prozent, der Umsatz der Branche deshalb um 22 Prozent auf 130 Milliarden Euro. Das Umsatzplus überdeckt nach Einschätzung des VCI aber die wirkliche wirtschaftliche Lage der Chemieindustrie. "Über profitables Wachstum werden wir auf Sicht erst einmal nicht mehr sprechen", sagte Kullmann. Der Abwärtstrend habe sämtliche Sparten des Chemiegeschäfts erfasst. Für die Unternehmen werde es immer schwerer, steigende Kosten durch höhere Preise an die Kunden abzuwälzen. Rund 70 Prozent der Unternehmen berichteten laut der VCI-Umfrage über einen Gewinnrückgang, einige sind bereits in die Verlustzone geraten.

(Bericht von Patricia Weiß, redigiert von Ralf Banser. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)