Berlin (Reuters) - Ökonomen und Wirtschaft können dem von der Ampel beschlossenen Reformpaket positive Seiten abgewinnen - im Gegensatz zu Umweltverbänden.

"Insgesamt hat sich die Nachtsitzung der Ampel gelohnt", sagte der Professor für Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf am Mittwoch der Nachrichtenagentur Reuters. "Sie hat viele sinnvolle Maßnahmen auf den Weg gebracht, die bisweilen unspektakulär, technokratisch, fast dröge daherkommen, die aber für effektiven Klimaschutz dafür umso wichtiger sind."

Es sei kein neues schuldenfinanziertes Großpaket geschnürt worden, mit dem jeder der drei Ampelpartner seine Lieblingsprojekte hätte finanzieren können. Die Möglichkeit dazu hätte es gegeben: "Denn weil die Gaspreisbremse für den Bund viel billiger wird als gedacht, schlummern Kreditermächtigungen im hohen zweistelligen Milliardenbereich im Bundeshaushalt, die man hätte umwidmen können", sagte das Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. "Wer auf einen großen Klimawumms gehofft hatte, der wurde vielleicht enttäuscht."

Die Koalition habe beim geplanten Ausbau des Schienennetzes und bei wichtigen Straßenbauvorhaben ein überragendes öffentliches Interesse festgestellt, sagte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer und fügte hinzu: "Diese Feststellung ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, weil sie Abwägungsentscheidungen der Behörden und Gerichte in der Regel zugunsten eines schnelleren Baus ausfallen lässt." Aber es sei fraglich, ob damit bereits der Wildwuchs beim Genehmigungs- und Planungsrecht beseitigt sei. Deutschland brauche schließlich eine massive Beschleunigung bei der Genehmigung von Stromleitungen, Wasserstoffpipelines, Industrieanlagen und anderen Infrastrukturprojekten, um die ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen.

"ÜBERFÄLLIGE ENTSCHEIDUNG"

"Unser Autobahnnetz beschleunigt wieder instand zu setzen und auszubauen, ist eine längst überfällige Entscheidung", sagte der Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), Dirk Jandura. "Alles andere, auch das bisherige Zögern und Streiten über diese Entscheidung, gefährdet den Wirtschaftsstandort Deutschland, seine Arbeitsplätze und unseren Wohlstand." Der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, sprach von einem "positiven Signal" für die Wirtschaft. "Vieles davon geht in die richtige Richtung: Schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren auch bei den vielen Engpässen auf Autobahnen, mehr Geld für die Schiene sowie ein höheres Tempo beim Ausbau erneuerbarer Energien sind gute Vorhaben für Deutschlands Unternehmen", sagte Adrian. "Nun kommt es aber auf die konkrete Umsetzung an."

Viele der verabredeten Maßnahmen seien Kompromisse, sagte Ökonom Südekum. Die jährlich scharfen Sektorziele bei der Emissionsvermeidung würden aufgeweicht, was ökonomisch angesichts der Integration der deutschen CO2-Bepreisung in den erweiterten europäischen Zertifikatehandel auch sinnvoll sei. "Trotzdem ist es eine politische Kröte, die die Grünen schlucken müssen", sagte der Ökonom. Aber Grund zum Jubeln habe auch die FDP nicht, denn wenn deren Verkehrsminister mehr als zwei Jahre in Folge seine Ziele verfehle, müsse verbindlich nachgesteuert werden. "Spätestens dann wird er einem Tempolimit wohl zustimmen müssen."

Kritik kam von der Klimaschutzbewegung "Fridays for Future". "Eine Woche nachdem der Weltklimarat deutlich gemacht hat, dass die Welt an einem dramatischen Kipppunkt steht, hat die Ampel beschlossen, so zu tun, als sei ihr das mehr oder weniger egal", sagte deren Vertreterin Annika Rittmann. "Während Naturzerstörung ab jetzt mit dem passenden Kleingeld hochgefahren werden darf, schockiert die Ampel mit der Bereitschaft, 144 Autobahnprojekte durchzuwinken."

Auch die Energie-Expertin beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Claudia Kemfert, kritisierte die Beschlüsse scharf. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete sie im Sender Phoenix als "Klimakatastrophen-Kanzler". "Es ist wirklich keine Fortschrittskoalition, die wir hier sehen, sondern eher eine Stillstands-Koalition", sagte sie. Man könne hier nicht von einem "Klima-Wumms" sprechen. "Ich würde es eher als Wümmschen bezeichnen, wenn überhaupt."

(Bericht von Rene Wagner. Redigiert von Christian Götz. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)