Bei Boeing zeigt sich dieses Phänomen der Finanzwelt erneut. In den letzten Jahren hat MarketScreener wiederholt vor den Risiken gewarnt, die mit den massiven Aktienrückkäufen zu überhöhten Bewertungen einhergehen, wie es nicht nur bei Boeing, sondern auch bei Unternehmen wie Intel oder Estée Lauder der Fall war.
 
Die Frage stellt sich, ob dies einer bedauernswerten Kapitulation vor dem kurzfristigen Druck der Finanzmärkte gleichkommt, der grundsätzlich im Widerspruch zu den langfristigen Perspektiven steht, an denen ein Industrieunternehmen festhalten muss, oder ob es sich schlicht um Inkompetenz handelt. Das bleibt jedem selbst zu beurteilen.
 
Nachdem in den vergangenen zehn Jahren mehr als 45 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe ausgegeben wurden, sieht sich Boeing nun mit einer Nettoverschuldung konfrontiert, die genau diesem Betrag entspricht. Der Flugzeugbauer steht unvorbereitet da, gerade jetzt, wo operative Pannen und die Notwendigkeit neuer Investitionsprogramme zusammenkommen.
 
Diese Pannen – chronische Sicherheitsprobleme bei fast der gesamten Produktpalette, Streiks in den Montagelinien, ein Rückgang der Bestellungen im Verteidigungsbereich, die Wiedereingliederung von Spirit AeroSystems usw. – sind ein gefundenes Fressen für die Presse und haben zwischen 2019 und 2023 zu einem kumulierten Verlust von 22 Milliarden Dollar geführt.
 
Weniger im Fokus der Medien steht die Tatsache, dass Boeing vollständig von den Kreditmärkten abhängig ist, um seinen laufenden Betrieb zu finanzieren. Verschlechtert sich die Bonität, kann dies schnell zu einer unkontrollierbaren Abwärtsspirale führen – und der Erstickungstod könnte über Nacht eintreten. Ein Herabstufen der Kreditwürdigkeit muss daher um jeden Preis vermieden werden.
 
Da es an veräußerbaren Vermögenswerten mangelt, scheint die einzige Option, das Eigenkapital aufzustocken, wie ein Analyst von Wells Fargo kürzlich mutig hervorhob. 
 
Eine Kapitalerhöhung würde zu einem Kurs erfolgen, der ein Drittel bis die Hälfte unter den Werten liegt, zu denen die Aktienrückkäufe im letzten Zyklus getätigt wurden. Man könnte nach einem epischeren Beispiel für Wertvernichtung suchen, aber man wird kaum eines finden.
 
Im März warnten wir bereits, dass die Bewertung von Boeing die extreme Stresssituation, mit der der Hersteller konfrontiert ist, nicht widerspiegelt. Im Gegenteil schien sie eine schnelle Normalisierung oder gar eine wundersame Rückkehr zu den historischen Profitabilitätsniveaus einzupreisen.
 
In seinen besten Jahren erzielte Boeing einen Nettogewinn zwischen 5 und 10 Milliarden Dollar. Doch diese Zeiten sind längst vorbei, und nun steht die Herausforderung an, eine Marktkapitalisierung von 96 Milliarden Dollar zusätzlich zu den 45 Milliarden Dollar Nettoschulden zu rechtfertigen. Keine leichte Aufgabe, selbst für die optimistischsten Analysten.
 
Ein weiteres Axiom der Finanzmärkte besagt, dass es das Schicksal aller hochkapitalisierten Unternehmen ist, irgendwann in ihrer Geschichte zu straucheln, selbst wenn sie aus einer Position substantieller Wettbewerbsvorteile operieren.
 
Das trifft auch auf Boeing zu, das über einzigartiges und souveränes Know-how verfügt und nach wie vor ein Quasi-Duopol mit Airbus auf dem zivilen Markt und mit Lockheed Martin auf dem Verteidigungsmarkt bildet.