Die zwei Abstürze der 737MAX in 2018 und 2019 waren nur der Auftakt zu einer Reihe von Unglücken für den Flugzeughersteller, der sich durch mangelnde Kooperation mit den Ermittlungsbehörden zusätzlich eine strafrechtliche Untersuchung durch das US-Justizministerium einhandelte.
In jüngster Zeit häuften sich die Vorfälle: Zwei 737 verloren während des Fluges Türen, eine 787 sackte aufgrund eines Ausfalls der Navigationssysteme ab, eine 777 verlor beim Start einen Reifen und kürzlich kam eine weitere 737 von der Landebahn ab.
Für zusätzlichen Thriller sorgt der Tod eines der Hauptwhistleblower im Boeing-Fall, des Ingenieurs John Barnett, dessen Tod als "Selbstverletzung" eingestuft wurde – zeitgleich mit den ersten Ergebnissen eines FAA-Audits, das zahlreiche Mängel in Boeings Produktionsprozessen aufdeckte. Dies könnte den Anwälten der Kunden des Herstellers wertvolle Munition liefern, falls sie sich entscheiden sollten, gegen Boeing vorzugehen. Wird eine hohe juristische Rechnung zu Boeings Problemen hinzukommen?
Ein weiteres Industriejuwel in der Krise
Boeings Situation erinnert an den Fall von General Electric: Eine schädliche Unternehmenskultur, ein übertriebener Drang, die Finanzmärkte zu beeindrucken, und eine Kurzfristorientierung haben das Unternehmen in die Krise geführt.
Boeing hat sich selbst in eine missliche Lage manövriert. Zwischen 2013 und 2019 gab das Unternehmen über 45 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe zu unvernünftigen Bewertungen aus – fast doppelt so viel wie die Entwicklungskosten der 787 – und nahm dafür hohe Schulden auf, die es anfällig für Konjunkturwenden und unvorhersehbare Ereignisse wie die Pandemie machten.
Mit einer Nettoverschuldung von 40 Milliarden Dollar und fünf aufeinanderfolgenden Verlustjahren mit einem kumulierten Minus von 22 Milliarden Dollar zwischen 2019 und 2023 steht Boeing vor einer enormen Wertvernichtung für seine Aktionäre.
Trotz der Erholung nach der Pandemie bleibt Boeings Umsatz und Betriebsergebnis weit hinter den früheren Zyklen zurück – vor den Problemen mit der 737MAX. Zwei Drittel der von Boeing ausgelieferten zivilen Flugzeuge waren Varianten der 737MAX...
Boeing sieht sich zudem mit 2,5 Milliarden Dollar Zinsaufwendungen konfrontiert. Die Priorität des Managements liegt daher auf der Entschuldung, was dem Unternehmen wertvolle Ressourcen für die Entwicklung neuer Programme entzieht.
Darüber hinaus hat der Konzern die Standards der Technologiebranche übernommen und zahlt nun einen großen Teil seiner Vergütungen in Aktienoptionen, was ihn im letzten Jahr 2,2 Milliarden Dollar kostete. War das wirklich notwendig, um das Image aufzupolieren und die besten Talente im Flugzeugbau anzuziehen? Vielleicht, aber dieser Schwall an zusätzlichen Kosten kommt jedenfalls zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt.
Boeing erzielt immer noch ein Drittel seines Umsatzes über seine Verteidigungsaktivitäten – wäre der Konzern ein Land, wäre er der fünftgrößte Waffenverkäufer der Welt – und ein weiteres Viertel über sehr widerstandsfähige Serviceaktivitäten.
Anleger, die auf einen Turnaround setzen, hoffen daher auf eine echte Neuerfindung des Unternehmens im Bereich der zivilen Luftfahrt. Dies wird wohl Zeit in Anspruch nehmen, zumal Boeing nun auch die Finanzierung der Übernahme von Spirit AeroSystems stemmen muss.
Spirit, einst eine Tochtergesellschaft des Herstellers und Spezialist für Flugzeugrümpfe, ist nach wie vor stark von Boeings Aufträgen abhängig – sie machten mehr als zwei Drittel seines Umsatzes aus. Doch die Probleme seines Hauptkunden haben Spirit in eine fast insolvente Lage gebracht: Die Reintegration von Spirit erscheint als eine notwendige Operation, auch wenn sie die Bilanz von Boeing weiter verschlechtern dürfte.
Die aktuelle Bewertung spiegelt nicht den tatsächlichen Stress wider. Im Gegenteil, sie scheint eine schnelle Normalisierung und eine Rückkehr des Geschäfts zu seinen historischen Profitabilitätsniveaus einzupreisen. Und das, obwohl sich der Hersteller, wie wir gesehen haben, noch mitten in einer turbulenten Phase befindet.