Von Jon Sindreu

NEW YORK (Dow Jones)--Boeing-Aktionäre konzentrieren sich zu Recht darauf, ob das Unternehmen nach ein paar schwachen Jahren im Jahr 2023 wieder gutes Geld verdienen wird. Aber sie sollten sich auch eine existenziellere Frage stellen: Wann wird der Airbus-Konkurrent wieder Flugzeuge bauen?

Anfang dieses Monats wurde im Boeing-Werk in Everett, Washington, die letzte 747 montiert, der Jumbo-Jet, der bei seiner Einführung im Jahr 1970 eine neue Ära einleitete. Als die Stilllegung im Jahr 2016 angekündigt wurde, sah es nicht so aus, als würde Boeing seine technische und kommerzielle Vorherrschaft aufgeben. Mit der 777 hatte das Unternehmen seit Mitte der 1990er Jahre gezeigt, dass zweimotorige Jets die Zukunft sind. Das letzte Modell dieser Art, der 787 Dreamliner, ist seit 2011 in Betrieb.

Die Lücke, die die 747 hinterlässt, fühlt sich aktuell aber größer an. Im November schockierte Boeing-Chef David Calhoun die Anleger mit der Ankündigung, dass bis mindestens Mitte der 2030er Jahre keine komplett neuen Verkehrsflugzeuge auf den Markt kommen würden.


   Boeing von Vielzahl an Problemen gebremst 

Seit 2019 muss sich Boeing mit der Stilllegung der 737 Max, der Corona-Pandemie, der Aussetzung der 787-Lieferungen und Problemen in der Lieferkette auseinandersetzen. Allein die Erhöhung der Produktion bestehender Modelle und die Auslieferung der 400 eingelagerten Jets ist schon kompliziert genug. Aber Calhoun musste sich auch mit Problemen im Verteidigungsbereich und einem Zertifizierungsstreit in Washington auseinandersetzen, der letzte Woche zu Gunsten von Boeing ausging.

Die Investition in ein neues Flugzeug führt in der Regel dazu, dass Luft- und Raumfahrtaktien aufgrund von Problemen und Kostenüberschreitungen eine unterdurchschnittliche Wertentwicklung aufweisen, insbesondere bei geplanten Erstflügen. Das könnte bedeuten, dass 30 Milliarden Dollar verbrannt werden - fast der gesamte Free Cashflow, den Boeing zwischen 2023 und 2026 erwirtschaften soll, wenn das Unternehmen wieder rentabel wird.

Dabei boomen die Aufträge für das bestehende Portfolio von Boeing: United Airlines kündigte kürzlich an, 100 weitere Max-Flugzeuge und 100 weitere Dreamliner kaufen zu wollen.


   Airbus könnte Boeing in die Enge treiben 

Airbus hat seinen amerikanischen Konkurrenten aber sowohl bei den Bestellungen als auch bei den Auslieferungen bereits überholt und kann Boeing in die Enge treiben, indem die Europäer einfach die vorhandenen Modelle modernisieren. Außerhalb der Strecken mit hohem Verkehrsaufkommen, die von der verlängerten A321 von Airbus dominiert werden, hat die 737 Max einen ähnlich hohen Marktanteil wie die A320-Familie. Aber Airbus braucht sie nur mit einem neuen Flügel aus Verbundwerkstoff nachzurüsten, um die 737 - eine Konstruktion aus den 1960er Jahren, die nicht mehr weiterentwickelt werden kann - überflüssig zu machen. Boeing könnte Schwierigkeiten haben, schnell zu reagieren: Ingenieure des US-Konzerns haben mehr als 20 Jahre lang kein Produkt von Grund auf neu entwickelt.

Die Boeing-Führungskräfte haben möglicherweise die falschen Lehren aus der Krise der 737 Max und den Problemen mit dem Dreamliner gezogen. Das Produktdesign war nie die Schwäche von Boeing: Die schlanke 787 war eine vorausschauende Wette, als Airbus seinen Jumbo A380 verdoppelte. Die letzte Modernisierung der 737, die viele im Nachhinein kritisieren, war ein wirtschaftlicher Erfolg. Theoretisch wurden dadurch Ressourcen frei, um in ein Mittelklasseflugzeug zu investieren, das den A321 hätte übertreffen und ein Testfeld für neue digitale Designtools hätte werden können - eine Idee, die vor sieben Jahren aufkam.


   Komplexe Lieferketten und mangelhafte Qualitätskontrollen 

Der Fehler, den das Unternehmen in den letzten Jahrzehnten begangen hat, bestand allerdings darin, den Erbsenzählern zu viel Kontrolle über den Entwicklungsprozess zu geben. Das führte zu übermäßig komplexen Lieferketten und mangelhaften Qualitätskontrollen.

Calhoun gab nun neue Eckdaten vor, wie sich ein neues Flugzeug finanzieren müsse. Demnach müsse jeder neue Jet den Fluggesellschaften Kostenvorteile von 20 bis 30 Prozent bringen. Mehr als die Hälfte der Einsparungen müsste aus der Entwicklung eines völlig neuen Typs von Turbofan-Triebwerken durch die Hersteller CFM und Pratt & Whitney stammen. Für Wasserstoff- oder Hybrid-Elektroantriebe sei es noch zu früh.

Diese Ziele scheinen nach historischen Maßstäben übertrieben. Die Fluggesellschaften würden sich wahrscheinlich trotzdem über ein Flugzeug freuen, das nur die Hälfte dieser Verbesserungen bringt, weil sie ihren ökologischen Fußabdruck unbedingt verkleinern wollen. Ohne neue Modelle werden sich die Effizienzgewinne bei Flugzeugen bis 2035 halbieren, so dass die Luftfahrtindustrie ihre Umweltversprechen nicht einhalten wird, schätzt der International Council on Clean Transportation. Die Fortschritte bei den neuesten Triebwerken von CFM und Pratt könnten zusammen mit einigen Verbesserungen an den Flugzeugzellen die Entwicklung eines lebensfähigen neuen Jets ermöglichen.

In ihrer Nostalgie für die Boeing von einst läuft die Wall Street Gefahr, zu vergessen, dass Boeing nicht nur eine Cash Cow war, sondern auch ein Unternehmen, das innovative Produkte liefern konnte. Es gibt einen Präzedenzfall dafür, was mit Flugzeugunternehmen ohne innovative Produkte geschieht: McDonnell Douglas. Es wurde 1997 von Boeing aufgekauft.

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December 30, 2022 06:53 ET (11:53 GMT)