BERLIN (dpa-AFX) - Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen - so hat die Bundesregierung ihr Handeln in der Coronakrise immer wieder begründet. Kanzlerin Angela Merkel unternimmt nun ebenfalls einen ungewöhnlichen Schritt: Sie will sich am Mittwochabend in einer Fernsehansprache direkt an die Bürger wenden. Aus der Wirtschaft reißen die Hiobsbotschaften nicht ab: Der deutsche Einzelhandel schlägt Alarm, die Aktienmärkte bleiben weltweit unter Druck. Aus den Urlaubsländern fliegen voll besetzte Maschinen deutsche Touristen zurück. Über allem schwebt die Frage, wie lange der Ausnahmezustand dauern wird. Und ob es noch viel schlimmer kommt.

FERNSEHANSPRACHE DER BUNDESKANZLERIN

Kanzlerin Merkel rief alle Menschen in Deutschland in einem bislang einzigartigen Appell zur Solidarität und Disziplin angesichts der Bedrohung durch das Coronavirus auf. "Das ist eine historische Aufgabe, und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen", sagte sie in ihrer Fernsehansprache. "Ich glaube fest daran, dass wir diese Aufgabe bestehen, wenn wirklich alle Bürgerinnen und Bürger sie als ihre Aufgabe begreifen", betonte Merkel. "Deswegen lassen Sie mich sagen: Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst."

Es gehe darum, das Virus auf seinem Weg durch Deutschland zu verlangsamen. "Und dabei müssen wir, das ist existenziell auf eines setzen: das öffentliche Leben soweit es geht herunterzufahren." Alle Menschen müssten voneinander Abstand halten und unnötige Begegnungen vermeiden. Die Lebensmittelversorgung sei "jederzeit gesichert", betonte Merkel. Vorratshaltung mit Maß sei sinnvoll - wie immer schon. Aber: "Hamstern, als werde es nie wieder etwas geben, ist sinnlos und letztlich vollkommen unsolidarisch."

KABINETTSSITZUNG

Am Mittwoch beriet das Bundeskabinett in seiner wöchentlichen Sitzung über die Umsetzung wesentlicher Maßnahmen im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Es sei auch um Fragen wie den grenzüberschreitenden Warenverkehr und das Rückholen deutscher Staatsangehöriger aus dem Ausland gegangen, hieß es in Regierungskreisen. Thema war auch die Reisewarnung für Urlaubsreisen weltweit. Das Kabinett verabschiedete außerdem die Eckpunkte für den Bundeshaushalt 2021. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) will an der "Schwarzen Null" festhalten und keine neuen Schulden aufnehmen. Allerdings: Die Auswirkungen der Coronakrise sind in dem Zahlenwerk noch nicht berücksichtigt.

Die österreichische Bundesregierung kündigte währenddessen ein Hilfspaket in Höhe von 38 Milliarden Euro an, um der Wirtschaft durch die Krise zu helfen. Dazu gehörten Steuerschuldungen, Haftungen für Kredite und Notfallhilfen, sagte Kanzler Sebastian Kurz in Wien.

BUNDESTAG

Der Bundestag will in der kommenden Woche trotz der Corona-Pandemie zu seiner nächsten regulären Sitzung zusammenkommen. Darauf hätten sich Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) und die Parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen am Mittwoch in einer Telefonkonferenz geeinigt, teilte ein Sprecher im Anschluss auf Anfrage mit. "Eine Änderung der Präsenztage ist nicht vorgesehen." Die Fraktionen stimmten aber untereinander für die Plenarsitzungen und Ausschussberatungen geeignete Maßnahmen ab, "um das Infektionsrisiko auf ein Mindestmaß zu reduzieren." Aus Fraktionskreisen hieß es, man werde wohl in verkleinerter Form tagen.

"LUFTBRÜCKE" FÜR DEUTSCHE URLAUBER

Die größte Rückholaktion für Deutsche aus dem Ausland in der Geschichte der Bundesrepublik ist angelaufen. Am Mittwochnachmittag landete in München die erste von der Bundesregierung gecharterte Maschine mit Urlaubern, die wegen der Coronakrise in Tunesien gestrandet waren. Später sollten nach Angaben des Auswärtigen Amts zwei Maschinen aus Ägypten in München und drei aus Marokko in Frankfurt ankommen. In den vergangenen Tagen hatten zahlreiche Länder wegen der rasanten Ausbreitung des Coronavirus Grenzen dicht gemacht und Flugverbindungen gekappt. Die Bundesregierung will 30 bis 40 Maschinen bei Lufthansa, Condor und Tui chartern, um die Deutschen zurückzuholen. Sie will dafür bis zu 50 Millionen Euro ausgeben. Nach Schätzungen des Auswärtigen Amts sind noch weit mehr als 100 000 Deutsche im Ausland unterwegs.

GRAVIERENDE FOLGEN FÜR DIE WIRTSCHAFT

Die großen Automobilkonzerne VW und Daimler hatten schon angekündigt, die Produktion herunterzufahren - am Mittwoch zogen BMW und Porsche nach. BMW-Vorstandschef Oliver Zipse sagte in München: "Ab heute fahren wir unsere europäischen Automobilwerke und das Werk Rosslyn in Südafrika herunter. Die Produktionsunterbrechung wird voraussichtlich bis zum 19. April eingeplant." Die Ausbreitung des Virus dürfte die Nachfrage nach Autos in allen wesentlichen Märkten erheblich beeinträchtigen. Das Porsche-Stammwerk in Zuffenhausen und das Werk in Leipzig bleiben ab Samstag für zunächst zwei Wochen geschlossen.

Unternehmen in Deutschland können wegen der Coronakrise ab sofort Hilfskredite beantragen. Die Unterstützung wird über die Hausbanken beantragt, wie die staatliche Förderbank KfW und die Deutsche Kreditwirtschaft mitteilten. "Wir übernehmen Verantwortung und tun alles, um Unternehmen in Deutschland zu helfen und sie schnell mit Liquidität zu versorgen", sagte KfW-Chef Günter Bräunig.

Die Konjunktur in Deutschland wird nach Einschätzung der Volkswirte der privaten Banken infolge der Krise massiv einbrechen. Für das Gesamtjahr erwartet der Bundesverband deutscher Banken (BdB) einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung um 4 bis 5 Prozent.

HERBE VERLUSTE FÜR DEN EINZELHANDEL

Im deutschen Einzelhandel droht laut Handelsverband Deutschland (HDE) wegen der angeordneten Ladenschließungen eine Insolvenzwelle. "Durch massive Umsatzausfälle werden Tausende selbstständige Unternehmen und Millionen von Arbeitsplätzen vernichtet", warnte HDE-Präsident Josef Sanktjohanser in einem Brief an Kanzlerin Merkel. Große Kauf- und Warenhausunternehmen, Fachmarktketten und tausende Mittelständler seien in ihrer Existenz massiv gefährdet. Sanktjohanser forderte daher Soforthilfen. Den täglichen Umsatzausfall durch das Schließen der Geschäfte beziffert der HDE auf rund 1,15 Milliarden Euro.

CRASH AM AKTIENMARKT

Nach einer Stabilisierung am Vortag setzte sich der Einbruch am deutschen Aktienmarkt zur Wochenmitte fort. Manche fürchten, dass der Dax unter die nächste runde Marke von 8000 Punkten sinkt. Zum Handelsschluss lag der Leitindex um etwa 5,5 Prozent niedriger als am Vortag - bei rund 8440 Punkten. Die Verluste der vergangenen knapp vier Wochen summieren sich mittlerweile auf mehr als 5000 Dax-Punkte

- oder fast 40 Prozent.

ABITURPRÜFUNGEN

Die Schulen geschlossen, Schüler und Lehrer zuhause - wie sollen da eigentlich die Abiturprüfungen über die Bühne gehen? Das Land Bayern kündigte an, deren Beginn vom 30. April auf den 20. Mai zu verschieben. Auch Mecklenburg-Vorpommern will die Prüfungen verschieben. Nun will die Kultusministerkonferenz (KMK) beraten, wie man bundesweit mit dem Problem umgeht. Für die Organisation der Prüfungen ist zwar jedes Bundesland selbst zuständig. In Mathematik und Deutsch sollte aber nach den bisherigen Plänen in den meisten Ländern am gleichen Termin geschrieben werden: das Deutsch-Abitur am 30. April, das in Mathematik am 5. Mai.

EUROVISION SONG CONTEST ABGESAGT

Praktisch alle Großveranstaltungen rund um den Globus wurden bereits abgesagt - nun trifft es auch den Eurovision Song Contest. Dieser hätte eigentlich vom 12. bis 16. Mai im niederländischen Rotterdam stattfinden sollen. "Das haben wir erwartet und befürchtet - es ist leider die einzig richtige Entscheidung", sagte der für den deutschen Beitrag zuständige ARD-Koordinator Unterhaltung, Thomas Schreiber. Für Deutschland hätte der Sänger Ben Dolic mit dem Lied "The Violent Thing" antreten sollen.

MEGA-STAU AN DER GRENZE ZU POLEN

Die am Wochenende von Polen eingeführten Grenzkontrollen haben am Übergang Ludwigsdorf bei Görlitz auf der Autobahn 4 zu einem Mega-Stau von rund 60 Kilometern geführt. Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) war in der Nacht mit rund 90 Helfern im Einsatz, um die Wartenden zu versorgen. "Es ist aus unserer Sicht eine humanitär bedenkliche Situation", sagte DRK-Sprecher Kai Kranich. Teils stünden die Menschen - darunter viele Familien - bis zu 20 Stunden im Stau. Es gebe weder Toiletten noch eine Versorgung mit Essen. Am Mittwoch reagierte der Grenzschutz in Polen und öffnete vier weitere Übergänge für den Autoverkehr. Und die Bundeswehr kündigte an, sie werde die Menschen mit Lebensmitteln, Getränken und Decken versorgen./sk/DP/fba