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LONDON (dpa-AFX) - Der "Tag der Freiheit" muss warten. Mit lautem Murren haben konservative Politiker in Großbritannien auf die Entscheidung von Premier Boris Johnson reagiert, das Ende aller Corona-Maßnahmen doch um vier Wochen zu verschieben. "Die gestrige Nachricht war eine bittere Enttäuschung", twitterte Kulturminister Oliver Dowden am Dienstag. Für den 21. Juni hatten viele Briten bereits den "Freedom Day" ausgerufen. Masken und Abstandsregeln sollten fallen. Doch seit Wochen drängten Wissenschaftler den Premier zur Verlängerung. Nun hat auch Johnson ein Einsehen und lässt sich von der hoch ansteckenden Delta-Variante den Öffnungsplan durcheinander wirbeln.

Die Zahl der Neuinfektionen steigt seit Tagen, die Sieben-Tage-Inzidenz ist von unter 20 auf zuletzt rund 70 in die Höhe geschnellt, und auch in den Krankenhäusern sind wieder mehr Corona-Patienten. Johnson hatte letztlich keine Wahl. "Daten, kein Datum", hatte er stets beteuert, würden den Öffnungskurs bestimmen. Der Weg aus dem Lockdown werde eine "Einbahnstraße" sein, "vorsichtig, aber irreversibel" werde er die Maßnahmen aufheben. Die Pause bis zum 19. Juli werde Tausende Leben retten, betonte Johnson, vom Sender Sky News "Mr Delay" - Herr Verzögerung - getauft, nun.

Ziel der Regierung ist, dass das Virus nicht die gut laufende Impfkampagne überholt. Dafür zieht sie den Zeitplan an. Spätestens in der Woche vom 19. Juli sollen alle über 40-Jährigen ihre zweite, für den vollen Schutz nötige Corona-Impfung erhalten, alle über 18-Jährigen ihre erste. Die Botschaft: Der vollständige Impfschutz ist von entscheidender Bedeutung bei der Bekämpfung der Pandemie.

"Hätten wir die Delta-Variante ohne Impfstoff, würde uns das in einen recht katastrophalen Zustand versetzen", sagte Mark Walport vom wissenschaftlichen Beratungsgremium Sage bei Sky News. Dazu passt eine Datenanalyse der Gesundheitsbehörde Public Health England (PHE), der zufolge zwei Impfdosen der Mittel von Biontech/Pfizer oder Astrazeneca schwere Krankheitsverläufe wegen Delta verhindern.

Längst ist diese Delta-Variante, die zuerst in Indien entdeckt wurde, in Großbritannien dominant, sie hat die Alpha-Variante, die erstmals in Südostengland bemerkt wurde, locker überholt. Gut 90 Prozent der neuen Fälle im Vereinigten Königreich sind auf Delta zurückzuführen. Das dürfte auch Deutschland, wo sich die Lage zuletzt erheblich verbessert hatte, zu spüren bekommen. Delta oder ähnliche Varianten würden "sicherlich bis zum Herbst hier auch das Feld dominieren", sagte der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité kürzlich im Podcast "Coronavirus-Update" von NDR-Info.

Deutschland ist derzeit da, wo Großbritannien sich noch vor wenigen Wochen wähnte. Die Sieben-Tage-Inzidenz fällt jeden Tag deutlich, die Zahl der Corona-Patienten in Krankenhäusern sinkt, ebenso die Zahl der Toten. Lockerungen werden möglich, ein Ende des Corona-Tunnels scheint in Sicht. Nun mahnen Experten zur Eile. Es gelte, für eine möglichst hohe Impfquote bei Erwachsenen zu sorgen, sagte Drosten.

Denn die Delta-Variante ist wesentlich ansteckender als der Alpha-Typ: Das Risiko, Angehörige des eigenen Haushalts zu infizieren, ist laut PHE schätzungsweise 60 Prozent höher. Das verstärkt die Gefahr für Menschen, die bisher nur einmal gegen das Virus geimpft wurden. Und gerade das in Großbritannien stark genutzte Astrazeneca-Mittel schützt offenbar nach einer Dosis deutlich weniger gegen die Delta-Variante als etwa das Biontech-Präparat.

Riskant ist Delta auch deshalb, weil die Variante offenbar etwas andere Symptome verursacht als bisher bekannt. Kopfschmerzen, laufende Nase und raue Kehle wurden zuletzt in einer britischen App zur Überwachung von Corona-Symptomen gemeldet. Fieber gehört zwar immer noch dazu, nicht aber der Verlust von Geruchs- und Geschmackssinn. Das bedeute, dass sich Covid-19 für einige jüngere Menschen stärker wie eine einfache Erkältung anfühle, sagte Studienleiter Tim Spector vom King's College London.

Bisher bleibt die Delta-Variante in Deutschland niedrig. Zuletzt hieß es vom Robert Koch-Institut (RKI), ihr Anteil an den untersuchten Proben betrage 2,5 Prozent. Allerdings beziehen sich die Angaben auf Proben aus der Woche vom 24. bis 30. Mai. Umso gespannter warten Experten auf den neuen RKI-Wochenbericht an diesem Mittwoch. Wegen der Delta-Ausbreitung hat die Bundesregierung das Vereinigte Königreich zum Virusvariantengebiet erklärt - das bedeutet scharfe Einreiseregeln und harte Quarantänemaßnahmen.

In England steigt derweil der Druck auf Premier Johnson. Konservative Hardliner fordern, der 19. Juli müsse endgültig das Ende aller Maßnahmen bedeuten. Das Risiko sei sonst groß, dass immer wieder verlängert werde, gerade im ohnehin virenreichen Herbst. "Die Öffentlichkeit muss verstehen, dass ein Risiko einfach dazu gehört", sagte der einflussreiche Abgeordnete Mark Harper dem Radiosender LBC.

Auch die Opposition nimmt Johnson ins Visier. Die Labour-Partei wirft ihm vor, zu lange gewartet zu haben. Der Gesundheitsexperte Jonathan Ashworth sagte, der Premier habe der Delta-Variante den roten Teppich ausgerollte. Erst Wochen nach Bekanntwerden der Mutante hatte die Regierung Indien auf eine "rote Liste" gesetzt - und Berichte zurückgewiesen, damit habe sie eine letztlich doch abgesagte Johnson-Reise in das südasiatische Land nicht gefährden wollen. Labour-Innenpolitiker Nick Thomas-Symonds sprach sogar von der "Johnson-Variante".

Vertraute des Premiers weisen solche Anschuldigungen empört zurück. Zugleich versichern sie, nur im Ausnahmefall würde der "Freedom Day" erneut verschoben. "Es müsste eine beispiellose und bemerkenswerte Veränderung in der Entwicklung der Krankheit geben", sagte Staatsminister Michael Gove am Dienstag dem zu Sky News./bvi/DP/fba