(neu: Stellungnahme von der Leyen, aktualisierte Aktienreaktion)

MAINZ (dpa-AFX) - Ein effektiver Corona-Impfstoff in Europa und den USA rückt in greifbare Nähe: Als erste westliche Hersteller haben das Mainzer Unternehmen Biontech und der Pharmakonzern Pfizer am Montag vielversprechende Ergebnisse einer für die Zulassung entscheidenden Studie veröffentlicht. Demnach bietet ihr Impfstoff einen mehr als 90-prozentigen Schutz vor der Krankheit Covid-19. Schwere Nebenwirkungen seien bislang nicht registriert worden, hieß es.

Die Veröffentlichung der Zwischenresultate gab auch den Börsen Europas kräftig Auftrieb: Der Dax eroberte erstmals wieder seit Mitte Oktober die 13 000-Punkte-Marke und ging am Abend mit 4,94 Prozent auf 13 095,97 Punkte aus dem Handel. Der Eurozonen-Leitindex EuroStoxx 50 gewann 6,36 Prozent auf 3407,91 Zähler.

Für die Biontech-Papiere ging es in den USA zeitweise um rund 27 Prozent nach oben. Zuletzt lagen sie noch mit rund 13 Prozent im Plus. Die Aktien des US-Pharmakonzerns Pfizer legten vorübergehend um fast 17 Prozent zu. Zuletzt betrug das Plus noch knapp 9 Prozent. Auch Papiere von Fluggesellschaften und anderen Unternehmen aus der Reisebranche legten deutlich zu. Die Aktien von Lufthansa und Tui gingen mit einem Plus von rund einem Fünftel aus dem Handel.

Biontech und Pfizer wollen den Angaben zufolge voraussichtlich ab der kommenden Woche die Zulassung bei der US-Arzneimittelbehörde FDA beantragen. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte, er gehe von einer parallelen Beantragung der Zulassung bei der FDA und der europäischen Arzneimittelbehörde Ema aus. Als deutscher Gesundheitsminister wolle er erreichen, dass ein Impfstoff eines deutschen Unternehmens "nicht zuerst in anderen Ländern zur Verfügung steht". Auch von Biontech hieß es, die vorhandenen Dosen sollten "fair" verteilt werden. Es werde nicht "ein Land alles erhalten".

Für den Fall der Zulassung macht Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing Hoffnung auf einen raschen Impfstart: "Wenn dieser Schritt erfolgen wird, könnte in der Tat bereits Ende 2020 eine Impfwelle anrollen." Die vorgestellten Ergebnisse seien ein "Silberstreifen an dem sonst so düsteren Horizont". Der Virologe Florian Krammer von der Icahn School of Medicine in New York nannte die Bekanntgabe die "beste Nachricht" für ihn seit Beginn der Pandemie.

Biontech hatte den Impfstoff BNT162b2 im Projekt "Lightspeed" (Lichtgeschwindigkeit) seit Mitte Januar entwickelt. Die für eine Zulassung entscheidende Phase-3-Studie begann ab Ende Juli in verschiedenen Ländern. Bis Montag haben mehr als 43 500 Menschen mindestens eine der beiden Impfungen bekommen, die im Abstand von drei Wochen verabreicht werden. Ein Impfschutz wird nach Angaben der Hersteller eine Woche nach der zweiten Injektion erreicht.

In der Studie wurden demnach bis Sonntag insgesamt 94 Fälle der Krankheit bestätigt. Die Ergebnisse werden nach Angaben von Biontech und Pfizer erst dann abschließend ausgewertet, wenn insgesamt 164 Fälle erreicht sind. Zudem werde geprüft, in welchem Maß die Impfung nicht nur vor Covid-19 schützt, sondern auch vor schweren Verläufen der Krankheit. Insgesamt sollen sowohl die Schutzwirkung als auch etwaige Nebenwirkungen über einen Zeitraum von zwei Jahren beobachtet werden.

Der Infektiologe Gerd Fätkenheuer von der Uniklinik Köln sprach von "großartigen und vielversprechenden Daten". "Ich denke, das wird unseren Umgang mit der Pandemie entscheidend beeinflussen, und ich hoffe, dass rasch große Mengen des Impfstoffes zur Verfügung stehen werden." Allerdings gaben Experten auch zu bedenken, dass die Daten zunächst nur aus einer Pressemitteilung stammen und nicht aus einer wissenschaftlichen Publikation. So fehlten etwa Informationen zum Schutzeffekt in bestimmten Altersgruppen und dazu, wie lange ein Impfschutz anhält.

Das Biontech-Präparat ist ein sogenannter RNA-Impfstoff, der auf einem bislang völlig neuen Mechanismus basiert. Er enthält genetische Informationen des Erregers, aus denen der Körper ein Viruseiweiß herstellt - in diesem Fall das Oberflächenprotein, mit dessen Hilfe das Virus in Zellen eindringt. Ziel der Impfung ist es, den Körper zur Bildung von Antikörpern gegen dieses Protein anzuregen, um die Viren abzufangen, bevor sie in die Zellen eindringen und sich vermehren.

Ein Vorteil von RNA-Impfstoffen ist, dass sie wesentlich schneller als konventionelle Impfstoffe produziert werden können. Biontech und Pfizer rechnen damit, noch in diesem Jahr weltweit bis zu 50 Millionen Impfstoff-Dosen bereitzustellen, im kommenden Jahr kalkulieren sie mit bis zu 1,3 Milliarden Dosen.

Die EU-Kommission verhandelt bereits seit einiger Zeit mit Biontech/Pfizer über einen Rahmenvertrag zur Lieferung des Impfstoffs an alle EU-Staaten. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schrieb am Montagnachmittag auf Twitter, man werde bald einen Vertrag über bis zu 300 Millionen Impfdosen abschließen. Unterzeichnet hat sie Rahmenverträge bisher mit den Pharmafirmen Johnson&Johnson, Astrazeneca und Sanofi-GSK.

Für Corona-Impfstoffe gilt wegen der besonderen Dringlichkeit ein beschleunigter Zulassungsprozess. Bei der Ema können Arzneimittelhersteller schon vor dem kompletten Zulassungsantrag einzelne Teile zu Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit eines Präparats einreichen. Ein solches Rolling-Review-Verfahren hat neben Biontech auch das britisch-schwedische Unternehmen Astrazeneca für seinen Impfstoff-Kandidaten gestartet. Astrazeneca hat bisher keine Phase-III-Daten veröffentlicht. Zum Zeitplan dafür lasse sich noch nichts sagen, teilte eine Sprecherin am Montag mit.

Zwar haben schon Länder wie Russland, China und kürzlich erst Bahrain Impfstoffe mit Einschränkungen freigegeben und impfen damit bereits Teile der Bevölkerung. Aber wie gut diese Impfungen tatsächlich schützen und welche Nebenwirkungen sie haben können, ist derzeit weitgehend offen./waw/DP/stw/he