- von Tom Käckenhoff und Christoph Steitz und Edward Taylor und Arno Schuetze

Der Konzern sei in einer schwierigen Situation, betont sie vor wenigen Tagen bei der Vorlage der Bilanz für das Geschäftsjahr 2018/19. "Da ist nichts zu beschönigen." Eine nüchterne Analyse, harte Arbeit und viele kleine Schritte seien nötig. Ehe die Restrukturierungen wirkten, würden wohl zwei, drei Jahre vergehen. Merz ist die dritte Führungskraft in zwei Jahren, die den Ruhr-Konzern vor dem Abgrund retten soll. Doch bei Thyssen mischen viele Köche mit. Eines wissen alle: Der über 200 Jahre alte Konzern kämpft ums Überleben.

Aufbruchstimmung kann Merz bei ihrer Premiere nicht entfachen. Im Gegenteil: Mit ihrer kritischen Bestandsaufnahme schlägt sie die Anleger in die Flucht. Der Aktienkurs geht in die Knie. Zu schwierig ist die Situation bei dem Unternehmen, zu dessen Angebot neben Stahl derzeit noch Aufzüge, Autoteile, Chemieanlagen, der Werkstoffhandel oder U-Boote gehören. "Wir werden deshalb heute nicht das eine Rezept für die Zukunft von Thyssenkrupp verkünden können", sagt Merz.

SCHLEUDERSITZ

Der Chefsessel von Thyssenkrupp - einst eine Ikone der deutschen Industriegeschichte - ist zum Schleudersitz geworden. Ekkehard Schulz blieb nach der Fusion von Thyssen und Krupp 1999 zwölf Jahre an der Spitze, Heinrich Hiesinger schmiss im Sommer 2018 nach sieben Jahren die Brocken hin, sein langjähriger Vertrauter Guido Kerkhoff bekam dann nach nur 14 Monaten an der Spitze den Laufpass. Und nun Merz. Die 56-Jährige hat zunächst nur für zwölf Monate den Vorsitz im Aufsichtsrat mit dem im Vorstand getauscht.

Nicht für jeden ist der Wechsel von Kerkhoff zur früheren Bosch-Managerin nachvollziehbar. "Ich habe nicht verstanden, warum Herr Kerkhoff gehen musste, zumal Frau Merz die bisherige Strategie fortsetzen will", kritisiert der Geschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), Thomas Hechtfischer. "Da kann man sich schon fragen, was bringt das? Auf jeden Fall ist es teuer." Rund sechs Millionen Euro kostet Thyssenkrupp der "goldene Handschlag" für Kerkhoff. Hiesinger ließ sich den Abschied mit mehr als vier Millionen Euro versüßen.

Die Strategie muss nach den Worten Hechtfischers nicht nur klar sein, sondern auch von allen Vertretern gleichermaßen unterstützt werden. Dies sei zuletzt offenbar nicht immer der Fall gewesen. "Die letzte große Einigkeit gab es im Aufsichtsrat vor einem Jahr, als die Aufspaltung präsentiert wurde. Man weiß derzeit nicht, wer da an welchem Strang zieht. Ein Vorgehen aus einem Guss sieht anders aus." Der Spielraum für Merz sei sehr begrenzt. Im Kontrollgremium ringen der schwedische Finanzinvestor und Thyssenkrupp-Großaktionär Cevian, die Betriebsräte und die IG Metall sowie die Krupp-Stiftung um Einfluss.

Merz selbst dämpft bereits die Erwartungen auf eine schnelle Erholung der Geschäfte. Thyssenkrupp werde im neuen Geschäftsjahr operativ in etwa nur so viel verdienen wie im schwachen Vorjahr - rund 800 Millionen Euro. Unter dem Strich erwartet sie einen noch höheren Verlust als die 260 Millionen Euro im abgelaufenen Jahr. Die 800-Millionen-Prognose sei vorsichtig angesetzt worden und lasse Spielraum nach oben, sagen die Experten von Citi Research. Kerkhoff hatte in seiner kurzen Amtszeit den Ausblick gleich vier Mal nach unten korrigieren müssen.

BESSER EINFACH ABWICKELN?

Um Geld für Investitionen in Wachstumsgeschäfte zu haben, will Thyssenkrupp die lukrative Aufzugssparte verkaufen. Hier könnten mehr als 15 Milliarden Euro zusammenkommen. Auch der schwächelnde Anlagenbau und Teile der Autokomponenten könnten verkauft werden. Dann bliebe im Prinzip nur noch das konjunkturanfällige Stahlgeschäft übrig. Doch bei den Stahlkochern brodelt es, da sie nicht wissen, was auf sie zukommt. 2000 der 27.000 Jobs sollen auf jeden Fall gestrichen werden. "Wir fordern ein klares Bekenntnis von Thyssenkrupp zu Stahl", sagte der stellvertretende Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp Steel Europe, Detlef Wetzel, zu Reuters. "Wir fordern massive Investitionen in Anlagen und Wettbewerbsfähigkeit. Wir fordern endlich Sicherheit für die Beschäftigten. Das alles ist längst überfällig." Am 3. Dezember wollen sie vor der Duisburger Stahlzentrale demonstrieren.

Union-Investment-Fondsmanager Michael Muders ist nicht davon überzeugt, dass der Werkstoff im Zentrum der künftigen Strategie stehen sollte. "Thyssenkrupp hat in der letzten Dekade nicht bewiesen, dass man für die Aktionäre Wert schaffen kann", kritisiert der Experte. "Wenn man in Europa im Stahlgeschäft kein Geld verdienen kann - und zwar über Jahre - dann muss man sich fragen, ob es Sinn macht, dieses Geschäft weiter zu betreiben", sagt Muders, dessen Fonds nach Refinitiv-Daten mit einem Anteil von knapp 0,7 Prozent Platz Neun unter den größten Aktionären des Konzerns belegt. "Ohne positiven Cashflow stellt sich irgendwann die Frage, ob man den ganzen Konzern nicht besser abwickelt."

"UNABHÄNGIGE INDUSTRIEVERSTEHER ANS RUDER"

Umstritten ist die Rolle der Krupp-Stiftung mit ihrer Chefin, der Mathematik-Professorin Ursula Gather. Die Stiftung ist mit 21 Prozent der größte Einzelaktionär von Thyssenkrupp. Sie hält sich trotz dieser Bedeutung mit Äußerungen zum Kurs des Konzerns zurück und fördert unter anderem Kunst, Kultur und Wissenschaft. Zweitgrößter Aktionär ist der Finanzinvestor Cevian mit rund 18 Prozent. Gather und Cevian-Vertreter Jens Tischendorf sind Mitglieder des Aufsichtsrats. "Für mich ist die Stiftung nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems", sagt der Vorstandschef der Vereinigung der Aufsichtsräte in Deutschland (VARD), Peter Dehnen. Im Stiftungs-Kuratorium sollte mehr unternehmerische Kompetenz vertreten sein. Es fehlten in dem Gremium mehr als sechs Jahre nach dem Tod des früheren Firmen-Patriarchen Berthold Beitz Leute, die unternehmerische Visionen hätten - "die wissen, wie ein Konzern tickt, wie man eine Strategie entwickelt, wie man einen Vorstand auswählt und ihm dann den Rücken stärkt."

Die VARD hat rund 130 Mitglieder und bezeichnet sich als unabhängigen Berufsverband für Aufsichtsräte. Sie hatte 2013 neben anderen den Rücktritt des damaligen Thyssenkrupp-Aufsichtsratschefs Gerhard Cromme gefordert, zu dem es unter dem Druck von Beitz dann auch kam. VARD-Chef Dehnen bezieht auch jetzt wieder Stellung: Der stetig fallende Börsenkurs weise die Richtung. "Thyssenkrupp braucht endlich einen Befreiungsschlag, der Vertrauen in die Zukunft schafft. Man mag Martina Merz viel zutrauen, aber am Ende blüht ihr das gleiche Schicksal wie Hiesinger und Kerkhoff, wenn sie nicht das liefert, was von ihr erwartet wird - was immer das ist. Daher: Die Aktionärsvertreter Tischendorf und Gather müssen im Aufsichtsrat abtreten. Wirklich unabhängige Industrieversteher müssen ans Ruder." Cevian und die Stiftung wollten die Aussagen nicht kommentieren.