--Braun: Schuldenbremse in kommenden Jahren nicht einzuhalten

--Altmaier: Schuldenbremse bleibt auch in Zukunft richtig

--FDP wirft Braun finanzpolitische Kapitulation vor

--Ökonomen sehen Braun Vorstoß skeptisch

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Von Andreas Kißler und Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones)--Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) ist mit seinem Vorschlag nach einer längeren Aussetzung der Schuldenbremse auf Widerspruch in der eigenen Partei und bei Ökonomen gestoßen. Braun hat sich angesichts der coronabedingten finanziellen Belastungen für eine Grundgesetzänderung ausgesprochen. Widerspruch kam von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) und von Ökonomen, die auch ohne Grundgesetzänderung die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen für möglich halten. Die oppositionelle FDP wirft Braun eine "finanzpolitische Kapitulation" vor und fordert eine Konsolidierung der Staatsausgaben.

"Die Schuldenbremse ist in den kommenden Jahren auch bei ansonsten strenger Ausgabendisziplin nicht einzuhalten", schrieb Braun in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt. Gleichzeitig sprach sich Braun dagegen aus, in den kommenden Jahren weiter wie 2020 und 2021 die Ausnahme für Naturkatastrophen zu nutzen.

Das würde ein "Tor zur dauerhaften Aufweichung der Schuldenregel" öffnen, so der Kanzleramtschef. Denn es sei "völlig unklar", wie lange die Pandemie eine Ausnahme von der Regel begründe. Deshalb sei es sinnvoll, eine Erholungsstrategie für die Wirtschaft in Deutschland mit einer Grundgesetzänderung zu verbinden, "die begrenzt für die kommenden Jahre einen verlässlichen degressiven Korridor für die Neuverschuldung vorsieht und ein klares Datum für die Rückkehr zur Einhaltung der Schuldenregel vorschreibt".

Die Schuldenbremse erlaubt den Bund eine Nettokreditaufnahme von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Dieser Verschuldungsspielraum besteht strukturell, also unabhängig von der konjunkturellen Lage. Im vergangenen Jahr lag das strukturelle Defizit pandemiebedingt bei 1,52 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.


Steuererhöhungen sollen vermieden werden 

Braun bezeichnete die längere Abweichung von der Schuldenbremse als eine "strategische Entscheidung zur wirtschaftlichen Erholung". Um eine schnelle Erholung und einen verlässlichen Rahmen für Investitionen zu haben, sei es sinnvoll, "die Sozialabgaben bis Ende 2023 zu stabilisieren und auch auf Steuererhöhungen zu verzichten".

Kritik an dem geplanten Verzicht auf Steuererhöhungen kam aber von der Linken. "Die Union spielt somit die Schutzmacht der Milliardäre", sagte Fraktionsvize Fabio De Masi. "Es wäre an der Zeit, die Vermögen des oberen einen Prozents der Bevölkerung wieder zu besteuern." Man verdanke den Abbau der öffentlichen Schulden vor der Corona-Krise jedoch Wachstum und niedrigen Zinsen, nicht der Schuldenbremse. "Die dümmste Regel Deutschlands wird einen Tod auf Raten sterben, auch wenn die Union sich nicht traut, sie endgültig zu beerdigen", erklärte er.


Widerspruch auch von Parteikollege Altmaier 

In seiner eigenen Partei stieß Braun mit seinem Vorstoß nach einer Aussetzung der Schuldenbremse auf Ablehnung. "Ich glaube, dass man zwei Dinge unterscheiden muss: Das eine ist, wie man vernünftig und pragmatisch auf die Corona-Pandemie reagiert, und zum anderen darf aber nicht infrage stehen, dass der Kurs der Konsolidierung und der Kurs der Schuldenbremse auch für die Zukunft richtig bleiben", sagte Wirtschaftsminister Altmaier in Berlin. Als Jurist sei er zudem "mit Grundgesetzänderungen in allen Bereichen der Politik immer eher zurückhaltend".

Altmaier betonte, er selbst habe bereits vor 15 Jahren die Schuldenbremse stets gefordert und auch mitgeholfen, sie durchzusetzen. Das Thema werde voraussichtlich auch in der Sitzung der Unionsfraktion am heutigen Dienstag eine Rolle spielen, so der Minister.


FDP wirft Braun finanzpolitische Kapitulation vor 

Nach Ansicht von FDP-Chef Christian Lindner will Braun mit falschen Mitteln die hohe Staatsverschuldung bekämpfen. "Der Hebel muss richtig auf Wachstum und Konsolidierung der Staatsausgaben umgelegt werden. Die Position von Herrn Braun hat dagegen den Charakter einer finanzpolitischen Kapitulation", sagte Lindner in einer Pressekonferenz. Die Vorschläge zur längeren Aussetzung der Schuldenbremse wären "Veränderungen der politischen Grundkoordinaten" und seien Ausdruck einer Orientierungssuche der Union.

Die Schuldenbremse sollte nicht aufgegeben, sondern modifiziert werden, indem man die Sozialversicherungssysteme mit einbezieht. "Nicht Corona allein ruiniert die Staatsfinanzen. Es ist auch eine mindestens seit 2013 verfolgte Politik der Ausweitung von Subventionen und der Vernachlässigung von Wettbewerbsfähigkeit unseres Landes", so Lindner.


Ökonomen weisen Vorschlag zurück 

Ökonomen wiesen den Vorschlag des Kanzleramtschefs ebenfalls zurück. "Eine Grundgesetzänderung zur Reform der Schuldenbremse ist der Anfang von ihrem Ende", sagte der Chef der Wirtschaftsweisen, Lars Feld, der Rheinischen Post. "Es ist möglich, nach der Corona-Krise, wenn sich der Aufschwung stabilisiert hat, zu einer soliden Finanzpolitik ohne massive Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen zurückzukehren." Denn der Bund nehme enorme Rücklagen aus der Corona-Krise mit und die frühere Flüchtlingsrücklage sei auch nach ihrer Umbenennung noch nicht angerührt worden.

Ähnlich kritisch bewertet Ifo-Chef Clemens Fuest den Vorstoß aus dem Kanzleramt. "Den Vorschlag, die Schuldenbremse jetzt für längere Zeit auszusetzen, halte ich nicht für sinnvoll, weil wir die Wirtschaftsentwicklung nicht kennen", sagte Fuest der Rheinischen Post. Es könne durchaus sein, dass 2022 noch einmal eine Ausnahme notwendig sei, aber das wisse man heute noch nicht. "Die These von Herrn Braun, dass man in den kommenden Jahren auf Steuererhöhungen verzichten und Investitionen vorantreiben sollte, halte ich ausdrücklich für richtig. Dazu braucht man aber keine Grundgesetzänderung."

Die Schuldenbremse erlaube es, jährlich darüber zu entscheiden, ob sie angesichts der besonderen Lage ausgesetzt wird. "Das führt zu kritischer öffentlicher Debatte, lässt der Politik in schwieriger Lage aber genug Handlungsspielräume", so Fuest.

(Mitarbeit: Petra Sorge)

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January 26, 2021 06:00 ET (11:00 GMT)