Essen (Reuters) - Hohe Energiepreise, gestiegene Materialkosten und ein mauer Konjunkturausblick bringen die Chemieindustrie 2023 in Bedrängnis.

"Alte Gewissheiten sind weg", bilanzierte der Chef des Spezialchemiekonzerns Evonik, Christian Kullmann, am Donnerstag in Essen: "So wie früher wird es nie mehr." Günstige Energie aus dem Osten gehöre nach dem russischen Angriff auf die Ukraine der Vergangenheit an.

Und das hat Folgen für die Branche: Der Kunststoffhersteller Covestro rechnet 2023 erneut mit einem deutlichen Rückgang des operativen Gewinns. Im vergangenen Jahr war das Ergebnis bereits um 47,6 Prozent auf 1,6 Milliarden Euro eingebrochen. Auch Evonik ist pessimistisch: Vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen (Ebitda) soll der Gewinn 2023 in einer Spanne von 2,1 bis 2,4 Milliarden Euro liegen. Im vergangenen Jahr waren es noch knapp 2,5 Milliarden Euro gewesen. "Unsere Prognosespanne ist angesichts der anhaltenden Unsicherheiten weiter gefasst als im Vorjahr", räumte Kullmann ein.

Die hohen Energiekosten sowie Preissteigerungen bei Rohstoffen und Vorprodukten setzen der Chemiebranche, Deutschlands drittgrößtem Industriezweig nach der Autobranche und dem Maschinenbau, schwer zu. Der Branchenverband VCI hatte im Dezember von einer "dramatischen Lage" gesprochen - und keine Hoffnungen auf eine durchgreifende Besserung gemacht. "Die Vorzeichen (..) stehen denkbar schlecht", hatte VCI-Präsident Markus Steilemann, der auch Covestro-Chef ist, gesagt.

Branchenprimus BASF hatte sogar mit harten Einschnitten am Stammwerk Ludwigshafen auf die hohen Energiepreise und maue Geschäftsaussichten geantwortet. Dem Sparkurs des Konzerns fallen weltweit 2600 Stellen zum Opfer, knapp zwei Drittel davon in Deutschland. BASF litt im vergangenen Jahr als größter industrieller Gasverbraucher in Deutschland besonders stark unter den explodierten Energiekosten. Auch Evonik tritt auf die Kostenbremse. Kullmann peilt Einsparungen in einer Höhe von rund 250 Millionen Euro an. Der Essener Konzern will aber ohne einen Stellenabbau und ohne Kurzarbeit durch die Krise kommen - und rechnet für das zweite Halbjahr wieder mit einer Belebung der Geschäfte.

Covestro schickte mit seinem trüben Ausblick die Aktien auf Talfahrt. Das Papier verlor zeitweise mehr als sieben Prozent an Wert und war der größte Verlierer im Dax. "Das ist so ziemlich das schlechteste Ergebnis, das wir uns für Covestro vorstellen konnten", urteilte Arne Rautenberg, Fondsmanager bei Union Investment. "Wir erwarten keinen großen Strategiewechsel oder massive Kapazitätsschließungen bei Covestro. Der Fokus muss unter diesen Bedingungen umso mehr auf den Kosten liegen", forderte er.

Im vergangenen Jahr habe Covestro Energiekosten von 1,8 Milliarden Euro gehabt, die er nicht komplett an die Kunden weitergeben konnte, erklärte der Konzern zur Vorstellung der Jahresbilanz. Im vierten Quartal habe sich die Lage etwas entspannt. Im neuen Jahr rechnet Covestro mit weiter hohen, aber nicht noch einmal steigenden Energiekosten. Vorstandschef Steilemann will den Verbrauch weiter senken und verstärkt auf erneuerbare Energien zurückgreifen. 2022 habe der Konzern bereits zwölf Prozent seines globalen Energiebedarfs durch Strom aus erneuerbaren Quellen gedeckt, für 2023 peilt Covestro einen Anstieg auf 16 bis 18 Prozent an. Evonik-Chef Kullmann setzt ebenfalls auf erneuerbare Energien und hat sich Ökostrommengen vom Versorger EnBW gesichert. Bis 2030 will Evonik den Strombezug vollständig auf erneuerbare Quellen umstellen.

Mit Blick auf die Energiepolitik in der Bundesrepublik hat die Branche Tempo angemahnt. Von dort komme "leider Gegenwind", sagte Kullmann. Letztlich stehe Europa mit den USA und China im Wettbewerb. Und gerade die USA werben mit ihrem Subventionspaket "Inflation Reduction Act" (IRA) um Investitionen aus Europa. Evonik baut etwa eine neue Anlage zur Produktion pharmazeutischer Lipide in den USA. Die US-Regierung unterstütze das rund 220 Millionen Dollar schwere Projekt mit rund 150 Millionen Dollar. Entscheidungen seien schnell getroffen worden. Die EU-Kommission solle sich daran orientieren. In Europa sähen sich die Unternehmen aber mit einem "Bürokratie-Monster" konfrontiert und müssten Tausende von Seiten für Hilfsanträge ausfüllen. "Dort wo es für uns die attraktivste Position gibt, werden wir investieren", kündigte Kullmann an.

(Bericht von Matthias Inverardi und Tom Käckenhoff, redigiert von Sabine Wollrab. Bei Rückfragen wenden Sie sich bittean unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com (für Politik und Konjunktur) oder frankfurt.newsroom@thomsonreuters.com (für Unternehmen und Märkte).)