Tirana (Reuters) - Der EU-Westbalkan-Gipfel endete am Dienstag mit demonstrativen Schwüren der Gemeinsamkeiten.

Doch er zeigte auch, dass die sechs Beitrittsländer keine Chance auf einen EU-Beitritt haben, wenn sich die EU nicht zuvor selbst reformiert. Denn Ungarn blockierte am Dienstag die Auszahlung eines EU-Kredits von 18 Milliarden Euro an die Ukraine. Und im Annäherungsprozess der Westbalkan-Länder sind es abwechselnd einzelne EU-Staaten wie die Niederlande, Frankreich oder zuletzt Bulgarien, die Fortschritte immer wieder verzögerten. Deshalb blieb auch am Dienstag in Tirana unklar, ob Bosnien-Herzegowina nun kommende Woche endlich den EU-Kandidatenstatus erhalten kann - und der Kosovo die seit langem versprochene Visa-Liberalisierung.

Der Grund: All diese Entscheidungen müssen im Rahmen der EU-27 einstimmig getroffen werden. Und dieser Zwang hat gerade in den vergangenen Monaten einzelne Staaten immer wieder dazu ermutigt, Entscheidungen aus völlig sachfremden Gründen zu verhindern. Beispiel Ungarn: Die Regierung in Budapest ist verschnupft darüber, dass die EU-Kommission so gravierende Probleme bei Rechtsstaats-Standards sieht, dass sie milliardenschwere Auszahlungen verzögert. Nun werden weitere Prüfungen gefordert. Für den umstrittenen Ministerpräsidenten Viktor Orban ist dies ein innenpolitisches Problem, denn das Land lebt sehr gut von den Überweisungen aus Brüssel. Also machte Orban Ernst: Obwohl 26 EU-Partner dafür sind, die Ukraine verstärkt zu unterstützen, blockierte er den Kredit. Dabei hat der Streit mit der EU-Kommission mit dem Kredit nichts zu tun.

In den kommenden Monaten droht noch mehr Ungemach. Denn auch Polens nationalkonservative Regierung liegt im Streit mit der EU-Kommission - und in Polen stehen Parlamentswahlen an, in denen die PiS-Partei ihre Mehrheit verteidigen will. EU-Diplomaten hatten schon vor Wochen gewarnt, Warschau könnte aus Verärgerung über EU-Sanktionen an anderer Stellen blockieren. Um solche Manöver künftig zu verhindern, haben Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die EU-Kommission und andere wiederholt den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen etwa in der EU-Finanz- und Außenpolitik gefordert.

SCHWERFÄLLIGER BEITRITTSPROZESS

Denn in der Außenpolitik sorgt das zunehmend konfrontativere Verhältnis etwa mit China oder Russland dafür, dass EU-Länder mit Sonderbeziehungen zu Peking plötzlich EU-Entscheidungen nicht mehr mittragen wollen und Beschlüsse verhindern. Die EU droht handlungsunfähig zu werden. Und der Beitrittsprozess der Westbalkan-Staaten krankt nicht nur an mangelnden Reformen und anhaltendem Nationalismus in der Region: Es sind auch die Einsprüche einzelner EU-Mitglieder, die dafür sorgen, dass der Prozess bereits 19 Jahre läuft.

Griechenland hatte mit seinem Vetorecht sogar eine Namensänderung von Mazedonien in Nord-Mazedonien erzwungen. Frankreich und die Niederlande hatten Beitrittsverhandlungen mit Albanien lange verhindert, weil sie sich sorgten, dass ihnen das innenpolitisch schaden würde - genauso wie Bulgarien im Falle Nord-Mazedoniens. Dabei hatten die Kandidaten nach Meinung der EU-Kommission längst alle an sie gestellten Anforderungen für die nächste Stufe der EU-Annäherung erfüllt.

Scholz lässt deshalb keine Rede aus, um die Abschaffung der Einstimmigkeit zu fordern. Und EU-Diplomaten warnen, dass zuvor keine Aufnahme neuer Mitglieder möglich ist, weil die EU ansonsten mit noch mehr Vetos rechnen müsse.

Allerdings: Auch Mehrheitsentscheidungen sind kein Allheilmittel. Schon in der Flüchtlingskrise 2015 zeigte sich, dass bei Migrationsentscheidungen in der EU zwar das Prinzip der qualifizierten Mehrheiten gilt. Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei wurden deshalb beim Beschluss für eine Verteilung der Flüchtlinge überstimmt. Aber wegen des hartnäckigen Widerstands der sogenannten Visegrad-Gruppe wurde die beschlossene Quotenregelung nicht umgesetzt.

Außerdem, das räumen EU-Diplomaten ein, ist es ein langer Weg bis zur Abschaffung der Einstimmigkeit. Denn kleine Staaten fürchten bei einer Aufgabe ihres Vetorechts um Einfluss, weil die großen Länder bei Mehrheitsentscheidungen mehr Gewicht haben. Zudem müsste eine Abschaffung der Einstimmigkeit in der Steuer- oder Außenpolitik einstimmig beschlossen werden. "Immerhin könnte die von allen kritisierte Blockade Ungarns für die Hilfen an die Ukraine jetzt ein Weckruf sein, dass es so nicht weitergehen kann", sagte ein EU-Diplomat.

(Redigiert von Ralf Bode. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an unsere Redaktion unter berlin.newsroom@thomsonreuters.com)

- von Andreas Rinke