(neu: Mit Äußerungen von Kanzler Nehammer nach dem Treffen mit Putin durchweg aktualisiert.)

MOSKAU/WIEN (dpa-AFX) - Auch am Tag des Besuchs von Österreichs Kanzler Karl Nehammer in Moskau bei Kremlchef Wladimir Putin sind Russlands Raketenangriffe in der Ukraine unvermindert weitergegangen. Umso dringlicher wirkte, was Nehammer dem russischen Präsidenten ausrichtete: "Meine wichtigste Botschaft an Putin war aber, dass dieser Krieg endlich enden muss, denn in einem Krieg gibt es auf beiden Seiten nur Verlierer", sagte Nehammer nach dem etwa einstündigen Treffen.

Mit großer Aufmerksamkeit und Skepsis wurde der erste Besuch eines EU-Regierungschefs in Moskau seit Ausbruch des Kriegs in Österreich und international verfolgt. Putin hatte vorher keine Signale des Einlenkens ausgesendet - und eine Reaktion des Kremls auf das Gespräch blieb zunächst aus.

Es gebe eine Spirale der Gewalt, sagte Nehammer. Er sei nach dem Gespräch mit Putin eher pessimistisch, was eine Ende der Kampfhandlungen angehe. "Präsident Putin ist massiv in der Kriegslogik angekommen." Alle Zeichen stünden auf Sturm, sagte Nehammer mit Blick auf den Donbass, wo die Ukraine eine russische Großoffensive erwartet. Die "Schlacht" könne "brutal heftig werden", sagte Nehammer. Es sei nun wichtig, humanitäre Korridore zu organisieren, damit die Zivilisten aus den umkämpften Städten fliehen könnten. Dafür trage Putin die Verantwortung.

"Das Gespräch mit Präsident Putin war sehr direkt, offen und hart", bilanzierte Nehammer. Er habe die schweren Kriegsverbrechen in Butscha und anderen Orten angesprochen und deutlich gemacht, dass an der Sanktionsschraube gedreht werde, solange Menschen in der Ukraine sterben. Der Kanzler forderte eine Aufklärung der Kriegsverbrechen. Dabei könnten die Vereinten Nationen helfen. Es gebe Beispiele wie den jugoslawischen Bürgerkrieg, dass solche Verbrechen aufgeklärt werden könnten.

Diejenigen, die dafür verantwortlich seien, müssten zur Rechenschaft gezogen werden, sagte Nehammer, der zuvor auch das Massengrab in Butscha bei Kiew besucht hatte. Putin habe ein Misstrauen an den Tag gelegt, was die unabhängige Verfolgung dieser Verbrechen angehe, so der Kanzler. Österreich habe aber angeboten, sich für eine Aufarbeitung durch die internationale Strafjustiz einzusetzen.

Kiew wirft Moskau chaotische und wahllose Bombardements sowie die massenhafte Tötung von Zivilisten vor. Die Militärführung in Moskau weist das zurück. Zumindest aber war nun Gelegenheit, die Sichtweise des jeweils anderen zu hören. "Es ist für mich alternativlos, auch mit Russland trotz aller Differenzen das direkte Gespräch zu suchen", sagte Nehammer. Die beiden Politiker trafen sich in Putins Moskauer Vorstadtresidenz in Nowo-Ogarjowo.

Noch am Samstag hatte Nehammer den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew getroffen - und ihn von seinem Plan informiert. Auch Berlin und Brüssel wussten laut Wiener Kanzleramt Bescheid. Bundeskanzler Olaf Scholz begrüßte die Reise Nehammers. Man befürworte "jegliche diplomatischen Bemühungen, die darauf abzielen, ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine zu erreichen und Grundvoraussetzungen für Verhandlungen zu schaffen zwischen der Ukraine und Russland", ließ er in Berlin mitteilen. Er selbst habe im Moment "keinerlei Pläne", nach Moskau zu reisen.

Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg verteidigte im Vorfeld das Treffen in Moskau gegen Kritik. "Es geht einfach darum, dass wir (...) jede Chance ergreifen müssen, um die humanitäre Hölle in der Ukraine zu beenden", sagte er am Rande eines EU-Außenministertreffens in Luxemburg. "Jede Stimme, die dem Präsidenten Putin verdeutlicht, wie die Realität sich außerhalb der Mauern des Kremls wirklich darstellt, ist keine verlorene Stimme." Zu Befürchtungen, dass Putin Bilder vom Treffen für seine Zwecke nutzen könnte, sagte Schallenberg, der Besuch sei so besprochen, dass es ausschließlich ein Vieraugengespräch ohne Medien gebe.

"Falle oder Coup?" Die "Kronen Zeitung" in Österreich stellte angesichts des Besuchs Nehammers eine naheliegende Frage. Und: Ausgerechnet das kleine Österreich will in einer der größten Krisen seit dem Zweiten Weltkrieg diplomatisch mitspielen, fragten sich nicht wenige.

Der diplomatische Schatz, den Wien in diesem Fall heben könnte, sind seine militärische Neutralität und seine traditionell guten Beziehungen zu Moskau. Wien sieht sich gern in der Rolle des Brückenbauers. Dieses Bild wollte Nehammer bemühen und den Dialog vorantreiben. Persönliche Diplomatie statt Telefongespräche ist sein Motto. Und er sagte im Anschluss, es müsse mehr direkte Gespräche mit Putin geben. Neben der Türkei und Israel könnte sich Österreich als weiteres mögliches Vermittlerland positionieren - so der Plan.

Jahrzehntelang hat Wien ein sehr enges Verhältnis zu Moskau gepflegt. Der österreichische Energiekonzern OMV hat schon vor mehr als 50 Jahren einen ersten Erdgasliefervertrag mit der damaligen Sowjetunion abgeschlossen. Heute kommen 80 Prozent des Gases aus Russland, was den Handlungsspielraum des Landes sehr einschränkt.

Immer wieder hofierten österreichische Spitzenpolitiker den Chef im Kreml. Die Ex-Kanzler Christian Kern (SPÖ) und Wolfgang Schüssel (ÖVP) bekamen Jobs in Aufsichtsräten russischer Top-Firmen - die sie angesichts des Ukraine-Krieges aufgegeben haben. Schlagzeilen machte der Privatbesuch Putins 2018 bei der Hochzeit der damaligen Außenministerin Karin Kneissl, die sich mit einem Knicks bedankte.

Österreich hat zwar alle EU-Sanktionen mitgetragen, aber auf seine Weise nicht zusätzlich die Fronten verhärtet. So hat Wien erst nach einigem Zögern einige wenige russische Diplomaten ausgewiesen. Skeptisch sah Österreichs führender Russland-Experte Gerhard Mangott Nehammers Vorstoß. "Auch in Moskau weiß man, dass das kleine Österreich kein Gewicht hat, um auf die Meinungsbildung in der Europäischen Union zu Russland Einfluss zu nehmen", sagte Mangott am Sonntagabend im ORF-Fernsehen./mrd/DP/men