Von Hans Bentzien

FRANKFURT (Dow Jones)--Der Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) dürfte am Ende seiner Beratungen am 15. Dezember erneut einen kräftigen Zinsschritt nach oben beschließen. Analysten erwarten überwiegend, dass sie es dieses Mal bei 50 Basispunkten belassen wird, wodurch der maßgebliche Einlagensatz auf 2,00 Prozent steigen würde und in einem Bereich läge, den manche EZB-Ratsmitglieder als "neutral" betrachten. Es gibt aber auch Analysten, die mit erneut 75 Basispunkten rechnen.

Argumente gibt es für beide Varianten, wobei grob gesagt die zu erwartende Rezession für einen kleineren Schritt spricht, die sehr hohe Inflation aber für einen größeren. Außerdem liegen der EZB neue Wachstums- und Inflationsprognosen vor, die allerdings meist nicht der Realität standhalten. Die Zinsentscheidung wird am Donnerstag (14.15 Uhr) veröffentlicht, eine Pressekonferenz mit EZB-Präsidentin Christine Lagarde beginnt um 14.45 Uhr. Die Woche bringt außerdem die Zinsentscheidungen der US-Notenbank, der Bank of England, der Schweizerischen Nationalbank sowie US-Inflationsdaten.


   Inflation weiterhin höher als von der EZB prognostiziert 

Um mit der Inflation zu beginnen: Die EZB soll mittelfristig für 2 Prozent Inflation sorgen. Im November betrug die Teuerung 10 Prozent und die Kernteuerung 5 Prozent. Die Gesamtteuerung war damit etwas niedriger als erwartet, nachdem sie im Oktober unerwartet deutlich (auf 10,7 Prozent) zugelegt hatte. Die Kerninflation entsprach der Prognose, aber auch hier hatte es im Oktober einen unerwartet deutlichen Anstieg gegeben. Insgesamt ist die Inflation derzeit höher als von den im September veröffentlichten EZB-Prognosen impliziert.

Für sich genommen ist das wohl kaum ein Anlass für die EZB, Tempo bei den Zinserhöhungen herauszunehmen. Im Gegenteil: Ein Zinsschritt von 75 Basispunkten entspräche der bisher in diesem Jahr zu beobachtenden Reaktion auf Inflationsüberraschungen. Die Inflation in der mittleren Frist, an der sich die EZB eigentlich orientieren sollte, ist ungewöhnlich unsicher - aber ebenfalls viel zu hoch. Bisher prognostiziert die EZB für 2023 und 2024 Teuerungsraten von 5,5 und 2,3 Prozent. Beide dürften angehoben werden. Zudem kommt eine Prognose für 2025 hinzu.


   Inflationserwartungen der Konsumenten sind gestiegen 

Analysten spekulieren darüber, ob die EZB innerhalb dieses Horizonts 2 Prozent für erreichbar halten wird und ob dass ein Anlass wäre, die Märkte auf ein baldiges Ende der Zinserhöhungen einzustimmen. Dagegen sprechen verschiedene andere Faktoren: Die Inflationserwartungen der Konsumenten sind auf Sicht von zwölf Monaten weiter gestiegen und lagen auf Sicht von drei Jahren bei 3 Prozent - zu hoch. Auch bei anderen umfragebasierten Inflationserwartungen ist zumindest eine leichte Abweichung nach oben festzustellen.

In Verbindung mit dem sehr robusten Arbeitsmarkt lässt das Zweitrundeneffekte über die Löhne möglich erscheinen. Schließlich ist auch keinesfalls sicher, dass die Inflation im Oktober tatsächlich schon ihr zyklisches Hoch erreicht hat.


   Falken scheinen mit 50 Basispunkten leben zu können 

Bei den öffentlichen Äußerungen von EZB-Offiziellen sticht zweierlei heraus: Einerseits fallen "Tauben" wie Präsidentin Christine Lagarde und ihr Chefvolkswirt Philip Lane mit Aussagen auf, die als hawkish angesehen werden können. So sagte Lagarde etwa, dass der Höhepunkt der Inflation wohl noch bevorstehe. Und Lane sagte, dass die EZB umso entschlossener vorgehen müsse, je weiter die Inflation von ihrem Zielwert entfernt sei. Andererseits scheint es eine gewisse Zufriedenheit mit dem bisher angeschlagenen Zinserhöhungstempo zu geben, auch bei "Falken" wie Joachim Nagel, der meinte, dass auch 50 Basispunkte ein großer Zinsschritt wären. Zudem haben sie nicht kritisiert, dass an den Märkten nur 50 Basispunkte eingepreist sind.

Manche Analysten meinen, dass es bei der bevorstehenden Ratssitzung einen Kompromiss geben wird: Je größer der Zinsschritt, desto später der Beginn des Abbaus der Anleihebestände. EZB-Offizielle haben dieser Lesart widersprochen und gesagt, dass der Bilanzabbau kein Substitut für Zinserhöhungen sein könne, sondern lediglich eine Ergänzung, die einer Verflachung der Zinsstrukturkurve entgegenwirke und die Liquidität im Bankensystem verringere. Nach entsprechenden Aussagen Lagardes wird für Donnerstag lediglich eine Mitteilung zu den allgemeinen Prinzipien der quantitativen Straffung erwartet, ein Zeitplan dürfte später folgen. Beginnen wird der Abbau der Anleihebestände wohl frühestens am Ende des ersten Quartals.


   US-Notenbank erhöht um nur 50 Basispunkte 

Der Offenmarktausschuss FOMC der US-Notenbank dürfte einen Gang zurückschalten, wenn er am Mittwoch über das Niveau seines Leitzinses entscheidet. Analysten rechnen damit, dass der Tagesgeldzielsatz nach vier Anhebungen um 75 Basispunkte in Folge nun nur noch um 50 Basispunkte erhöht wird. Spannend ist die Frage, wie es anschließend weitergeht. Anhaltspunkte könnte der so genannte Dot plot liefern, der die Zinsprognosen aller FOMC-Mitglieder anonymisiert zusammenfasst. Die Zinsentscheidung und der Dot plot werden um 20.00 Uhr veröffentlicht, um 20.30 Uhr beginnt die Pressekonferenz mit Fed-Chairman Jerome Powell.


   US-Preisauftrieb im Fokus der Federal Reserve 

Einen Tag vorher (14.30 Uhr) kommen die Daten, die derzeit am stärksten den Kurs der US-Notenbank bestimmen - die Inflationsraten. Seit Juni hat sich der Preisauftrieb in den USA merklich abgeschwächt: Die jährliche Inflationsrate ging von 9,1 Prozent im Juni auf 7,7 Prozent im Oktober zurück. Ein Teil dieses Rückgangs ist auf die sinkenden Energiepreise zurückzuführen, die bekanntermaßen volatiler sind als andere Preise. Die Inflationsdaten für November werden weitere Anhaltspunkte dafür liefern, ob sich dieser Trend fortsetzt oder ob es sich nur um einen Zwischentief handelt. Ökonomen erwarten nach dem Factset-Konsens einen weiteren Rückgang der jährlichen Inflationsrate auf 7,3 Prozent in der Gesamtrate. In der Kernrate wird ein Rückgang auf 6,1 von 6,3 Prozent prognostiziert. Die Fed entscheidet einen Tag später über ihre Geldpolitik.


   Bank of England verlangsamt die Straffung 

Die Bank of England (BoE) dürfte bei ihrer Sitzung das Tempo der geldpolitischen Straffung verlangsamen, da es bei den mittelfristigen Inflationserwartungen und der Nachfrage nach Arbeitskräften vermehrt Zeichen für eine Abschwächung gibt. Ökonomen rechnen mit einer Zinserhöhung um 50 Basispunkte auf 3,50 Prozent. Im November hatte die BoE ihren Leitzins um 75 Punkte angehoben. Das war die größte Anhebung seit 1989. Die BoE kämpft gegen einen Inflationsschub durch steigende Energiepreise. Die heranrückende Rezession lässt manche BoE-Ratsmitglieder aber zweifeln, ob weitere Zinserhöhungen nötig sind. Im November hatten bereits zwei Ratsmitglieder gegen die Erhöhung um 75 Punkte gestimmt und geringere Zinsschritte vorgeschlagen. Das Abstimmungsverhalten der Ratsmitglieder könnte daher weiter zersplittern.


   Schweizerische Nationalbank erhöht Zinsen um 50 Basispunkte 

Die Schweizerische Nationalbank (SNB) dürfte ihre Zinsen nach dem Schritt von 75 Basispunkten im September nach überwiegender Meinung von Analysten nur noch um 50 Basispunkte anheben. Zwar lag die Inflation zuletzt bei 3 Prozent und damit höher als das Ziel von maximal 2 Prozent, doch ist das immer noch weit entfernt von den Inflationsexzessen, die anderswo zu beobachten sind. Zudem rechnet die SNB im Dezember damit, dass die Inflation am Ende ihres Prognosehorizonts wieder bei 2 Prozent liegen würde. Allerdings veröffentlicht die Zentralbank am Donnerstag (9.30 Uhr) zusammen mit der geldpolitischen Entscheidung auch neue Makro-Prognosen.

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December 09, 2022 07:57 ET (12:57 GMT)