- von Andy Sullivan und Christian Rüttger

Washington/Berlin (Reuters) - US-Präsident Joe Biden hat den ersten Jahrestag der Erstürmung des Kapitols für eine Abrechnung mit seinem Vorgänger Donald Trump genutzt und zur Verteidigung und Aufrechterhaltung der Demokratie aufgerufen.

Ohne Trump beim Namen zu nennen, gab Biden ihm am Donnerstag eine direkte Mitschuld an der Gewalteskalation vor einem Jahr. "Wir müssen uns absolut darüber im Klaren sein, was wahr und was gelogen ist." Trump habe "ein Netz aus Lügen" gesponnen. Er habe dies getan, weil ihm Macht wichtiger sei als Prinzipien, und sein Ego verletzt sei. Er könne seine Niederlage bei der Präsidentschaftswahl im November 2020 nicht akzeptieren. Die Lügen, die "die Wut und den Wahnsinn" vor einem Jahr angefacht hätten, seien nicht verschwunden. Darum sei es wichtig, sich ihnen standhaft, resolut und unnachgiebig entgegenzustellen.

So etwas wie vor einem Jahr dürfe nie wieder passieren, sagte Biden in seiner Rede im Kapitol, dem Schauplatz eines der schwärzesten Tage in der US-Geschichte. Er hoffe, dass der 6. Januar 2021 nicht das Ende der Demokratie markieren werde, sondern den Beginn einer "Renaissance der Freiheit und des Fairplay". Der Schmerz und die Narben, die der Tag hinterlassen habe, säßen tief. "Wir befinden uns in einer Schlacht um die Seele Amerikas." Trumps Lügen und der Mob, der das Kapitol angegriffen habe, hätten nichts mit den zentralen Werten der USA zu tun. Doch Länder wie China und Russland setzten darauf, dass die Tage der Demokratie in Amerika gezählt seien. Er wisse genau, welchen Bedrohungen die USA ausgesetzt seien, sagte Biden. Aber er werde das Land verteidigen. "Ich werde niemanden erlauben, der Demokratie einen Dolch an die Kehle zu setzen."

Bidens Auftritt, eingeleitet durch eine Rede von Vizepräsidentin Kamala Harris, bildete den Auftakt zu einer Reihe von Veranstaltungen zur Erinnerung an die Ereignisse vor einem Jahr. Trump selbst hatte eine geplante Rede kurzfristig abgesagt. Unmittelbar im Anschluss an Bidens Auftritt warf er seinem Nachfolger in einer schriftlichen Erklärung jedoch vor, die Nation mit seiner Politik zu zerstören und zu versuchen, das Land weiter zu spalten. "Dieses politische Theater ist einfach nur eine Ablenkung von der Tatsache, dass Biden vollkommen gescheitert ist."

EIN TIEF GESPALTENES LAND

Tausende wütende Trump-Anhänger hatten den Parlamentssitz in Washington, einem der wichtigsten Symbole der Demokratie, vor einem Jahr gestürmt. Ihr Ziel war es, den Kongress daran zu hindern, Bidens Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu bestätigen. Aus Überzeugung, dass Trump um den Wahlsieg betrogen wurde, bahnten sie sich gewaltsam Wege in das Gebäude, richteten Zerstörungen und Verwüstungen an und sorgten dafür, dass Kongressmitglieder vorübergehend in Sicherheit gebracht werden mussten. Vier Randalierer starben, ebenso wie ein Polizist wenig später. Rund 140 Polizisten wurden verletzt, vier nahmen sich seither das Leben.

Vorausgegangen war eine Rede Trumps vor seinen Anhängern, in der er sie zum entschiedenen Kampf aufforderte und einmal mehr behauptete, der Wahlsieg sei ihm gestohlen worden. Noch während er sprach, machte sich ein erster Tross am frühen Nachmittag auf den Weg zum unweit entfernten Kapitol. Erst gegen Abend beruhigte sich die Lage und in der Nacht zum 7. Januar bestätigte der Kongress schließlich formell Bidens Sieg. Zwei Wochen später wurde Biden vereidigt.

Doch seinem erklärten Ziel, die Amerikaner wieder zu einen, ist Biden nach Ansicht vieler Beobachter seitdem nicht viel nähergekommen. Auch ein Jahr nach seiner Amtsübernahme ist die Gesellschaft tief gespalten. Obwohl Dutzende Gerichte, Wahlbehörden und auch Mitglieder der ehemaligen Trump-Regierung Vorwürfe des Wahlbetrugs zurückgewiesen haben, sind rund 55 Prozent der republikanischen Wähler einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters und des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge vom Gegenteil überzeugt.

Trump genießt dabei nach wie vor großen Einfluss in der Partei, was auch bei den Kongresswahlen im November eine Rolle spielen dürfte. Bidens Demokraten müssen dann ihre knappen Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat verteidigen. Gelingt dies nicht, muss Biden in den dann verbleibenden zwei Jahren bis zur nächsten Präsidentenwahl 2024 gegen erheblich größere Widerstände im Parlament regieren.