Die stolze und anhaltende Prosperität der indischen Wirtschaft (9,1 % Wachstum im Jahr 2021, 6,7 % im Jahr 2022, über 7 % im Jahr 2023 und erwartete 6 bis 8 % für 2024, damit weit über dem chinesischen Wachstum in diesen Jahren) hat das Land auf den fünften Platz der Weltwirtschaften katapultiert und einen Boom an den lokalen Börsen ausgelöst.

Dieser Aufschwung verleitete die wachsende Mittelschicht dazu, sich dem Aktienmarkt zuzuwenden. Die Versprechen sind groß: Zwischen 2013 und 2023 lag die durchschnittliche Jahresrendite des NSE Nifty 50, des Index der 50 führenden Unternehmen des Landes, bei etwa 15 % und stach damit den S&P 500 aus (laut Bloomberg). Der Sensex BSE30 konnte in vier Jahren um mehr als 170 % zulegen.

Kurs des Sensex BSE30 seit Februar 2019

Dieser Schwung hat zusammen mit dem Erfolg von Videoplattformen und sozialen Netzwerken auch eine neue Art von Beruf hervorgebracht (den wir in Europa und den USA bereits gut kennen): den der wenig gewissenhaften Börseninfluencer.

Geblendet von den Versprechungen dieser YouTuber, die schnelle Gewinne und riesige Vermögen in Aussicht stellen, haben sich Hunderttausende indischer Privatpersonen auf Trading-Dienste gestürzt. Nicht etwa, um ihre Ersparnisse langfristig, diszipliniert und geduldig anzulegen und auf die stetige Stärke der Wirtschaft des Subkontinents zu setzen, sondern um über Nacht reich zu werden, und zwar mit Derivaten.

Kurs des Nifty50 seit Februar 2019

85 Milliarden gehandelte Optionskontrakte im Jahr 2023

So hat sich Indien seit 2019 beim jährlichen Handelsvolumen mit Future-Optionen auf den ersten Platz des weltweiten Siegertreppchens geschoben (auch wenn die USA nach dem Wert in Dollar weiterhin den ersten Platz belegen). Im Jahr 2023 (laut Futures Industry Association) wurden nicht weniger als 85 Milliarden Optionskontrakte von den Anlegern des Landes gehandelt - mehr als irgendwo sonst auf der Welt. Und von diesen Tradern waren 35% Privatpersonen.

Gute Nachrichten für die Sparer, könnte man meinen! Doch weit gefehlt. Denn das Handeln mit gehebelten Optionen ist weitaus komplexer und riskanter als langfristiges Anlegen, wie wir bei MarketScreener regelmäßig betonen, und die indischen Privatanleger sind sich der damit verbundenen Risiken kaum bewusst.

Angestachelt durch die irreführenden Slogans der lokalen Influencer, haben sich die Sparer des Landes Hals über Kopf in die Spekulation gestürzt. Heute beträgt die durchschnittliche Haltedauer einer Option durch einen indischen Trader laut Axis Asset Management Co weniger als 30 Minuten – ein hochriskantes Scalping. Bei dieser Art von Praxis liegt das Verlustrisiko bei 90 %. Zwischen März 2021 und März 2022 sollen indische Trader so 5,4 Milliarden Dollar verloren haben, das sind 1.468 US-Dollar pro Person (Bloomberg) – in einem Land, in dem das BIP pro Kopf im gleichen Zeitraum bei 2.300 Dollar lag.

Schlecht gewappnete Regulierungsbehörden

Die Regulierungsbehörden des Landes (The Securities and Exchange Board of India, kurz Sebi) sind alarmiert über die Folgen für die Bevölkerung, doch sind sie schlecht gerüstet gegen die neuen Informationskanäle. Theoretisch dürfen nur bei der Regulierungsbehörde registrierte Analysten Finanzempfehlungen abgeben. Doch diese Hürde wird leicht umgangen – über soziale Netzwerke (Whatsapp, Telegram, X) oder private Schulungen. Influencer können sich auch mit offiziellen Brokerfirmen zusammenschließen, um ihre Seminare zu halten.

Die Behörden versuchen daher, Sicherheitsnetze wie Risikoaufklärungspflichten einzuführen und die Zügel anzuziehen, indem sie einige der Traumverkäufer strafrechtlich verfolgen oder die Zugangsbedingungen zu den Märkten verschärfen.

Doch in der großen indischen Finanzindustrie haben nur wenige ein Interesse daran, solche Einschränkungen zu sehen. Denn letztlich profitieren alle – Brokerfirmen, Broker, Betreiber von Finanzplätzen – von diesem Hype.