Berlin (Reuters) - Vier Jahre in Folge hatte Deutschland den weltweit größten Überschuss in der Leistungsbilanz - im Corona-Jahr 2020 ist China einer Studie des Ifo-Instituts nun vorbeigezogen.

Die Volksrepublik kommt nach Berechnungen der Münchner Forscher auf einen Überschuss von umgerechnet 310 Milliarden Dollar, wie aus der Reuters am Freitag vorliegenden Untersuchung hervorgeht. Deutschland folgt auf dem zweiten Platz mit 261 Milliarden. In beiden Ländern kommen diese Summen vor allem deshalb zustande, weil sie weit mehr Waren ins Ausland verkauft als von dort bezogen haben. Mit Abstand auf Platz drei folgt mit Japan eine weitere Exportnation mit 158 Milliarden Dollar.

Der Wechsel an der Spitze liegt vor allem daran, dass Deutschland im Gegensatz zu China wegen der Rezession bei wichtigen Handelspartnern deutlich weniger Waren ins Ausland verkaufte. "Der traditionell hohe Überschuss im deutschen Warenhandel fiel dadurch um 34 Milliarden Dollar kleiner aus als 2019", sagte Studienautor Christian Grimme zu Reuters. China konnte dagegen trotz der weltweiten Corona-Rezession seine Ausfuhren steigern. Der Grund: Der Exportweltmeister produziert Waren, die in der Pandemie besonders gefragt sind. "Zum einen wurden verstärkt elektronische Ausrüstungen wie Datenverarbeitungsgeräte aus China eingekauft", sagte Grimme. Dies sei wohl eine Folge der verstärkten Arbeit von zu Hause, die zusätzliche Investitionen in IT-Produkte wie Laptops und Bildschirme notwendig machte. Zudem sei der weltweite Bedarf von medizinischer Schutzausrüstung beträchtlich gestiegen. So wurde Chinas Ausfuhr von Mund-Nase-Masken nach oben gefahren.

Die weltweite Kritik an Deutschland am - trotz des Rückgangs - weiter sehr hohen Überschuss dürfte nicht abreißen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung sank er zwar 2020 auf 6,9 Prozent von 7,1 Prozent im Jahr 2019 und damit seit seinem Spitzenniveau von 8,6 Prozent im Jahr 2015 bereits das fünfte Mal in Folge. "Das ist immer noch ein sehr, sehr hoher Wert - gerade im Vergleich mit anderen großen Exportnationen", sagte Grimme. "Die Europäische Union hält allerdings höchstens sechs Prozent für langfristig tragfähig." Ein Wert, der seit 2011 konstant übertroffen wird. Die EU-Kommission verweist ebenso wie etwa der Internationale Währungsfonds auf die Defizite, die solch großen Überschüssen gegenüberstehen, und warnt vor den hohen Schulden der betroffenen Länder. In China macht der Überschuss lediglich 2,1 Prozent der Wirtschaftsleistung aus, in Japan 3,2 Prozent.

USA MIT HÖCHSTEM DEFIZIT SEIT 2008

Das weltweit größte Defizit in der Leistungsbilanz entfällt dem Ifo-Institut zufolge traditionell auf die USA, weil dort erneut viel weniger Waren exportiert als importiert wurden und die Amerikaner zudem deutlich weniger an Wertpapierinvestitionen im Ausland verdienten. Es dürfte sich auf 635 Milliarden Dollar summieren, was 3,1 Prozent der Wirtschaftsleistung entspricht. "Das US-Defizit war seit 2008 nicht mehr so hoch", sagte Grimme. Und das, obwohl der gerade abgelöste US-Präsident Donald Trump mit Strafzöllen und einer aggressiven "America First"-Politik das zu ändern versuchte. Er sah sein Land von Handelspartnern wie Deutschland ausgebeutet und drohte mit Strafzöllen auf Autos - den deutschen Exportschlager schlechthin. Hinter den USA folgen Großbritannien mit einem Defizit von 91 Milliarden Dollar (3,6 Prozent) und Frankreich mit 64 Milliarden (2,9 Prozent).

Die Leistungsbilanz wird nicht nur vom Warenhandel, sondern etwa auch durch Zahlungen aus Vermögensanlagen wie Zinsen und Dividenden sowie dem Dienstleistungsverkehr beeinflusst. Bei Letzterem gab es 2020 in Deutschland wegen der Corona-Krise ein Novum: Das traditionelle Defizit bei Dienstleistungen schmolz den Ifo-Berechnungen um 22 Milliarden Dollar und war damit fast ausgeglichen. "Seit Beginn der Statistik im Jahr 1971 ist das deutsche Dienstleistungsdefizit noch nie so gering ausgefallen", sagte Grimme. Die Ursache dafür ist erneut in der Pandemie zu suchen: die Deutschen haben laut Grimme 2020 Corona-bedingt sehr viel weniger Urlaub im Ausland gemacht. Dadurch floss auch deutlich weniger Geld in Länder wie Italien, Spanien oder Griechenland ab, wodurch das Defizit im Dienstleistungsverkehr einbrach. Das sorgte dafür, dass trotz deutlicher Exportrückgänge ein immer noch sehr hoher Überschuss in der Leistungsbilanz stand.