Von Andreas Kißler

KIEL/BERLIN (Dow Jones)--Von den führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten hat jetzt auch das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) seine Prognose für die deutsche Wirtschaftsleistung in diesem Jahr deutlich gekappt. "Die deutsche Wirtschaft erholt sich weiter von der Corona-Krise, verliert dabei aber zunächst an Fahrt", erklärte das Kieler Institut. 2021 sei mit einem Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 2,6 Prozent zu rechnen anstatt bislang erwarteter 3,9 Prozent, 2022 dann mit 5,1 Prozent anstelle von 4,8 Prozent.

"Fortbestehende Vorsichtsmaßnahmen zum Infektionsschutz und Lieferengpässe bei Vorprodukten erweisen sich als hartnäckiger und gravierender als erwartet und verschieben den Schlussspurt in das kommende Jahr", erklärten die Forscher. 2023 dürfte die Wirtschaftsleistung nach ihren Berechnungen um 2,3 Prozent steigen. "Der Aufholprozess bleibt intakt, bekommt aber über das Winterhalbjahr eine Delle", sagte IfW-Konjunkturchef Stefan Kooths.

Insgesamt belaufe sich der Verlust an Wirtschaftsleistung durch die Corona-Krise in den Jahren 2020 bis 2022 auf schätzungsweise 320 Milliarden Euro. Die Lieferengpässe kosteten die Industrie schätzungsweise in diesem Jahr 40 Milliarden Euro Wertschöpfung, von der ein großer Teil nachgeholt werden dürfte, sobald die Lieferengpässe überwunden seien. Mit der zunächst schwächeren Erholung dürfte die deutsche Wirtschaft ihr Vorkrisenniveau erst im ersten Quartal 2022 erreichen und damit ein halbes Jahr später als noch in der Sommerprognose erwartet. Ab Jahresmitte dürften die Produktionskapazitäten wieder mindestens normal ausgelastet sein, so die Kieler Erwartung.


   Keine Konjunkturprogramme nötig 

"Der Impuls für den konjunkturellen Zwischenspurt im kommenden Jahr rührt vom Wegfall der bis dahin hemmenden Faktoren", sagte Kooths. So dürften mit der dann final abflauenden Pandemie weite Teile der kontaktintensiven Dienstleistungsbereiche zum Normalbetrieb zurückkehren, und mit dem Überwinden der Lieferengpässe könne der rekordhohe Auftragsüberhang in der Industrie abgearbeitet werden. "Kaufkraft satt bei den Konsumenten und prall gefüllte Auftragsbücher in den Unternehmen - so sieht ein selbsttragender Aufschwung aus", konstatierte er. Weitere Konjunkturprogramme würden in dieser Lage Öl ins Feuer gießen und letztlich destabilisierend wirken.

Der private Verbrauch dürfte nach der Prognose im nächsten Jahr mit einer Rate von fast 8 Prozent so kräftig zulegen wie noch nie in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte. Während der Pandemie habe sich Kaufkraft von über 200 Milliarden Euro aufgestaut, die die ohnehin expansiv wirkende Rückkehr zu normalen Konsumgewohnheiten zusätzlich verstärke. Das IfW rechnet konkret mit einem Plus von 7,8 Prozent 2022 und 2,3 Prozent 2023 nach einem Minus um 0,5 Prozent in diesem Jahr.

Die Verbraucherpreise steigen demnach im laufenden Jahr mit einer Rate von 2,9 Prozent so stark wie seit fast dreißig Jahren nicht mehr, wobei sich die Inflationsdynamik in der zweiten Jahreshälfte noch beschleunigen und in der Spitze die 4-Prozent-Marke reißen dürfte. Auch wenn im kommenden Jahr einige Sonderfaktoren wegfielen, werde sich der Teuerungsdruck nur allmählich abbauen und die Inflationsrate erst im Jahr 2023 die 2-Prozent-Marke wieder unterschreiten. Erwartet werden Raten von 2,6 Prozent 2022 und 1,9 Prozent 2023.


   Arbeitsmarkt überwindet Corona-Krise zügig 

Die Delle im Aufholprozess werde zwar das Tempo des Beschäftigungsaufbaus zunächst etwas dämpfen, insgesamt stehen die Zeichen am Arbeitsmarkt für das IfW jedoch "auf eine recht zügige Überwindung der Corona-Krise". Im Verlauf des kommenden Jahres dürfte das Vorkrisenniveau der Arbeitslosenquote nahezu erreicht werden. Sie dürfte von 5,7 Prozent in diesem Jahr auf 5,3 Prozent im nächsten Jahr sinken und 2023 weiter auf 5,1 Prozent zurückgehen. Zugleich werde wohl infolge des demografischen Wandels der Zenit bei der Beschäftigung überschritten und die Anzahl an erwerbstätigen Personen fortan alterungsbedingt tendenziell rückläufig sein.

Mit der Belebung der Industrie im kommenden Jahr könnten auch die Ausfuhren und Investitionen wieder kräftiger anziehen. Der Export dürfte mit Raten von 8,1 Prozent im laufenden Jahr und von 5,8 und 4,2 Prozent in den Jahren 2022 und 2023 zulegen, und die Importe steigen nach der Prognose um 8,3 Prozent in diesem, 6,5 Prozent im nächsten und 5,0 Prozent im übernächsten Jahr. Die Unternehmensinvestitionen dürften nach 3,1 Prozent im Jahr 2021 in den kommenden beiden Jahren ein Plus von 6,2 und 4,6 Prozent verzeichnen.

Das Defizit im Staatshaushalt steigt laut der Prognose dieses Jahr nochmals von 145 Milliarden Euro auf gut 173 Milliarden Euro oder 4,9 Prozent des BIP. Grund sei vor allem, dass viele Hilfsgelder und Subventionen für die Wirtschaft zur Bewältigung der Corona-Krise erst in diesem Jahr fließen. Der Fehlbetrag sinke dann auf gut 60 Milliarden Euro oder 1,7 Prozent des BIP im Jahr 2022 und auf knapp 30 Milliarden Euro oder 0,7 BIP-Prozent im Jahr 2023. Dagegen dürften die Sozialversicherungen vor steigenden finanziellen Herausforderungen stehen und die Abgabenlast zunehmen. "Um einen deutlich höheren Rentenbeitragssatz wird man kaum herumkommen", meinte Kooths.

Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com

DJG/ank/sha

(END) Dow Jones Newswires

September 23, 2021 04:08 ET (08:08 GMT)