(neu: schwedische und finnische Diplomaten reisen nach Ankara)

STOCKHOLM (dpa-AFX) - Schweden bricht unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs in der Ukraine mit seiner langen Tradition der Bündnisfreiheit und will gemeinsam mit Finnland die Nato-Mitgliedschaft beantragen. "Wir verlassen eine Ära und treten in eine neue ein", sagte Ministerpräsidentin Magdalena Andersson am Montag in Stockholm. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sprach mit Blick auf einen möglichen Nato-Beitritt der beiden Länder von einem "schwerwiegenden Fehler mit weitreichenden Folgen".

"Eine schwedische Nato-Mitgliedschaft erhöht die Schwelle für militärische Konflikte in Schweden und in unserer nahen Umgebung", begründete Andersson die historische Entscheidung, die ihrer Regierung nicht leicht gefallen ist. Die regierenden Sozialdemokraten standen in der Vergangenheit wie keine andere Partei für die schwedische Bündnisfreiheit und den kritischen Blick auf einen Nato-Beitritt. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat die Regierung innerhalb von wenigen Monaten die totale Kehrtwende vollzogen und nun angekündigt, den Antrag auf Mitgliedschaft in dem Verteidigungsbündnis in den kommenden Tagen einzureichen.

Der russische Einmarsch in die Ukraine habe alles verändert, betonte Andersson am Montag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Chef der bürgerlichen Oppositionspartei Moderaterna, Ulf Kristersson. Dessen Partei setzt sich schon seit Jahren für einen Nato-Beitritt ein. "Dass wir heute gemeinsam hier stehen, ist ein Zeichen der Stärke für Schweden", sagte Andersson. Zuvor hatte eine Mehrheit der Parteien im schwedischen Parlament sich bei einer Debatte am Montag für einen Nato-Mitgliedsantrag ausgesprochen.

Nur Linke und Grüne, die zusammen 43 der 349 Sitze im Reichstag haben, kritisierten den Antrag. Die Linkspartei hatte eine Volksabstimmung zur Nato-Frage gefordert. "Jetzt werden Entscheidungen getroffen, die Generationen von Schweden betreffen, ohne dass das schwedische Volk in den Prozess einbezogen wird", sagte Parteichefin Nooshi Dadgostar.

Nicht nur die veränderte Sicherheitslage hat Schweden in die Arme der Nato getrieben - sondern auch die Tatsache, dass Finnland dem Land aus Angst vor dem großen Nachbarn Russland mit schnellen Schritten vorangeeilt ist. "Stünde Schweden allein außerhalb der Nato, wären wir in einer sehr verletzlichen Position", sagte Andersson.

Die Regierungschefin beschwor ihre Landsleute, in der Übergangszeit des Aufnahmeverfahrens in den kommenden Monaten einen kühlen Kopf zu bewahren und sich nicht von Drohungen aus Moskau einschüchtern zu lassen: "Es besteht die Möglichkeit, dass wir bei Bedarf militärische Unterstützung bekommen."

Die nordischen Nato-Mitglieder Dänemark, Island und Norwegen stellten ihren beiden Nachbarn bereits am Montag Sicherheitsgarantien aus. "Sollten Finnland oder Schweden vor ihrer Aufnahme in die Nato Opfer von Aggressionen auf ihrem Territorium werden, werden wir Finnland und Schweden mit allen notwendigen Mitteln unterstützen", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der drei Länder. Dem Bündnisbeitritt der beiden Länder müssen alle 30 Nato-Staaten zustimmen.

Überschattet werden die historischen Entwicklungen vom Streit innerhalb der Nato. Wochenlang hatten Generalsekretär Jens Stoltenberg und seine Mitarbeiter den Eindruck vermittelt, dass der Beitritt Finnlands und Schwedens innerhalb des Bündnisses vollkommen unumstritten ist und in kürzester Zeit beschlossen werden kann. Ende vergangener Woche meldete sich dann allerdings der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zu Wort und warf Finnland und Schweden eine Unterstützung der von der Türkei bekämpften kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Kurdenmiliz YPG in Syrien vor.

"Es besteht ein Risiko, dass das zu einem Stillstand führen könnte, denn das ist sowohl in der Türkei als auch in Schweden eine politisch und ideologisch wichtige Frage", sagte Paul T. Levin, der Chef des Instituts für Türkeistudien an der Universität Stockholm, am Montag im schwedischen Fernsehen. "Es wäre schwierig für Schweden, die Sache der Kurden aufzugeben, die vielen Sozialdemokraten am Herzen liegt."

Zudem kritisierte Ankara, dass auch Nato-Länder wegen des türkischen Vorgehens gegen diese Gruppierungen die Lieferung von Rüstungsgütern an die Türkei eingeschränkt haben. Im Bündnis gilt es deswegen mittlerweile als sicher, dass die Türkei dem Beitritt Finnlands und Schwedens nur gegen Zugeständnisse zustimmen will. Die Beschränkungen von Waffenlieferungen an die Türkei seien inakzeptabel, machte Außenminister Mevlüt Cavusoglu zuletzt am Sonntag nach Nato-Beratungen in Berlin deutlich.

Mehrere andere Nato-Mitgliedsstaaten hätten dagegen bereits angekündigt, so schnell wie möglich eine Entscheidung über einen schwedischen Beitritt treffen zu wollen, sagte der schwedische Verteidigungsminister Peter Hultqvist. Noch am Montag brach Hultqvist auf Einladung des Pentagon nach Washington auf, um US-Verteidigungsminister Lloyd Austin zu treffen. Dabei soll neben der Sicherheitslage in Europa und Russlands Krieg in der Ukraine auch der schwedische Nato-Mitgliedsantrag ein Thema sein.

Wie die Türkei von einem Veto gegen einen Nato-Beitritt von Schweden und Finnland abgehalten werden kann, steht noch nicht fest. Nach Angaben von Diplomaten könnten neben Erklärungen der beiden Nordländer zum Kampf gegen den Terrorismus auch Waffengeschäfte eine Rolle spielen. So will die Regierung in Ankara in den USA F-16-Kampfjets kaufen - in Washington war ein möglicher Deal zuletzt aber politisch umstritten. Jedenfalls wollen schwedische und finnische Diplomaten noch in dieser Woche nach Ankara reisen, um sich mit Vertretern des türkischen Außenministeriums zu treffen.

Ursprünglich war geplant, dass die Nato-Staaten unmittelbar nach dem Eingang der Beitrittsanträge im Nato-Rat entscheiden, das Aufnahmeverfahren zu starten. Bereits im Juni sollten dann die sogenannten Beitrittsprotokolle unterzeichnet werden und die Ratifizierungsverfahren in den Mitgliedstaaten beginnen. Nach diesem Plan könnten Finnland und Schweden im Idealfall noch in diesem Jahr offizielle Bündnismitglieder werden. Voraussetzung dafür ist nun aber, dass es möglichst schnell eine Einigung mit der Türkei gibt./wbj/DP/stw