Von Paul Clarke

LONDON (Dow Jones)--In der Londoner City rechnen einige der ranghöchsten Banker damit, dass im Zuge des Brexit mehr Jobs und Funktionen nach Kontinentaleuropa verlagert werden.

Als der EU-Austritt Großbritanniens in diesem Monat offiziell wurde, gab es zwar ein paar Hänger, doch größtenteils war es ein reibungsloser Übergang. Aber der Brexit-Deal in letzter Minute hinterließ große Fragen im Finanzdienstleistungssektor. Banken und Börsenmakler versuchen immer noch, die Regeln zu interpretieren, die ihnen den Zugang zu den Märkten auf dem Kontinent ermöglichen.

Experten zufolge könnte es Jahre dauern, bis zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ein tragfähiges Abkommen über Finanzdienstleistungen zustande kommt. Bis dahin wird Großbritannien in den kommenden Jahren wahrscheinlich mehr Arbeitsplätze und Dienstleistungen im Finanzsektor an den Kontinent verlieren, sagten führende Banker.


   Wahres Ausmaß der Job-Abwanderung erst langfristig sichtbar 

"Als Branche könnten wir im Laufe der Zeit eine Bandbreite von Tätigkeiten auf den Kontinent abwandern sehen, je nachdem, wie sich das regulatorische Umfeld entwickelt", sagte Tiina Lee, Leiterin des Geschäftsbereichs Großbritannien und Irland der Deutschen Bank.

"Multinationale Banken, die in Großbritannien tätig sind, haben ihre Geschäftspläne für die Zeit nach dem Brexit größtenteils abgeschlossen, so dass die Auswirkungen auf die Londoner City sich künftig wahrscheinlich nur schrittweise zeigen werden und keinen unmittelbaren Umbruch darstellen", sagte Clare Woodman, Leiterin von Morgan Stanley für Europa, den Nahen Osten und Afrika, hinzu.

Prognosen über den Verlust von Arbeitsplätzen haben in der City die Runde gemacht. Manche erwarteten, dass bis zu 40.000 Bankjobs London verlassen würden. Der Gouverneur der Bank of England, Andrew Bailey, sagte am 6. Januar, dass bis jetzt etwa 7.000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Diese Zahl sage natürlich nicht, wie die Entwicklung langfristig aussehe, sagte Bailey vor einem Ausschuss des britischen Finanzministeriums.

Einige sind nicht so pessimistisch. "Insgesamt haben wir eine gewisse Verlagerung von Aktivitäten aus der City in die EU gesehen, und obwohl dies im Laufe der Zeit zunehmen könnte, ist das Volumen geringer als ursprünglich prognostiziert", sagte David Mathers, Chief Financial Officer der Credit Suisse.

"London ist unser EMEA-Hauptquartier und das wird sich nicht ändern, aber wir werden unsere Präsenz in Frankfurt verstärken", sagte Manolo Falco, Co-Leiter der Bank-, Kapitalmarkt- und Beratungseinheit der Citi.


   Dealmaker näher am Kunden - weniger Reisen nach Covid-19-Abklingen 

Einige Investmentbanken sehen den Brexit als eine Chance. Banken haben mehr Dealmaker in die Nähe ihrer Kunden auf den europäischen Kontinent verlegt, um näher am Geschehen zu sein. Dieser Trend wird sich durch Covid-19 wahrscheinlich noch verstärken. Denn Geschäftsreisen dürften weiter sinken, auch wenn das Leben zur Normalität zurückkehrt.

Richard Gnodde, Chief Executive von Goldman Sachs International, sagte am 4. Januar in einem Memo an die Mitarbeiter, dass der Brexit eine Chance darstelle, die Aktivitäten in Europa auszuweiten. "Mit dem formellen Austritt Großbritanniens aus der EU hinter uns und einer neuen Handelsvereinbarung besteht eine echte Chance für das Unternehmen, seine Aktivitäten in der Region weiter auszubauen, indem wir unsere lokale Präsenz in vielen EU-Ländern stärker nutzen", schrieb er in dem Memo, in das Financial News Einblick hatte. Financial News ist ebenso wie diese Agentur Teil von Dow Jones.

"Für Europa bringt der Brexit potenziell größere Veränderungen mit sich", sagte Woodman von Morgan Stanley. "Er bietet die Chance, den Ausbau von wichtigen Finanzprodukten, Dienstleistungen und Regulierungen zu beschleunigen. Er wird auch längerfristigen Zielen wie effizienteren Kapitalmärkten und der Konsolidierung des Einlagengeschäfts Auftrieb geben."

Die meisten Top-Banker glauben weiterhin, dass die City das größte Finanzzentrum in Europa bleiben wird, selbst wenn sie durch den Brexit einen Dämpfer erhält.

"Was auch immer passiert, London wird ein wichtiges Zentrum bleiben", sagte Lee. "Es wird weiterhin Zugang zu einem tiefen, erstklassigen Talent-Pool und einem Ökosystem von professionellen Dienstleistungen bieten, die es in großem Maßstab unterstützen. Das ist heute in den zahlreichen Finanzzentren in der EU27 nicht einfach abzubilden."

"Der City of London wird es gut gehen", sagt der ehemalige Barclays-Chef Bob Diamond. "London hat sich immer wieder an veränderte Umstände angepasst und wird auch weiterhin ein globales Finanzzentrum sein. Aber viele der negativen Folgen des Brexit werden kurzfristig in anderen Teilen Großbritanniens zu spüren sein."

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January 13, 2021 08:54 ET (13:54 GMT)