Von Yuliya Chernova

LONDON (Dow Jones)--Das Fundraising europäischer Startups ist in diesem Jahr sprunghaft angestiegen. Dabei dominieren Megarunden mit immer höher kletternden Bewertungen. "Europa holt die verlorene Zeit wieder auf", freut sich Tom Wehmeier, Partner der Londoner Wagniskapitalfirma Atomico. Jahrzehntelang hinkten europäische Startups ihren internationalen Pendants in Sachen Ehrgeiz und Kapital hinterher, so Wehmeier. Das erwies sich als "teuer, wenn man sich den Anteil Europas an der globalen Marktkapitalisierung ansieht. Aber die Dinge ändern sich sehr schnell", fügt der Experte hinzu.

Insgesamt sammelten Startups in Europa, einschließlich Großbritannien und Israel, bis Mitte Juni rund 49,6 Milliarden US-Dollar ein und näherten sich damit der Summe von 51,7 Milliarden Dollar, die im Jahr 2020 in den Markt flossen, so das Marktforschungsunternehmen Pitchbook Data. Fast ein Viertel der diesjährigen Summe ging laut Pitchbook an nur ein Dutzend Startups, die jeweils mehr als 500 Millionen Dollar einnahmen. Im vergangenen Jahr gab es sechs solcher Runden.

Die bisher größte Finanzierungsrunde für ein europäisches Venture-Unternehmen fand laut Pitchbook im Jahr 2021 statt. Das war die 2,75-Milliarden-Dollar-Runde für das in Stockholm ansässige Batterie-Startup Northvolt. Zu den weiteren Mega-Finanzierungen in diesem Jahr gehörten 1 Milliarde Dollar, die das Stockholmer Zahlungs-Startup Klarna Bank im März bei einer Bewertung von 31 Milliarde Dollar einsammelte, die sich in einer Folgerunde auf 45,6 Milliarden Dollar erweiterte. Celonis, ein Hersteller von Unternehmenssoftware mit Sitz in München und New York, sammelte 1 Milliarde Dollar bei einer Bewertung von mehr als 11 Milliarden Dollar ein.

Der Venture-Markt in Europa folgt dem US-Trend, dass immer mehr Kapital von immer weniger Unternehmen eingesammelt wird. Die hohe Marktkapitalisierung europäischer Unternehmen, die kürzlich an die Börse gegangen sind, geben den Venture-Firmen, die den Markt für Startups in der Spätphase vorantreiben, mehr Vertrauen, so Investoren. Glänzende Vorbilder sind der in Bukarest gegründete Anbieter von Automatisierungssoftware Uipath und der in Stockholm gegründete Musik-Streaming-Dienst Spotify, die kürzlich mit jeweils rund 36 und 48 Milliarden Dollar bewertet wurden. Europäische Startups profitieren auch von der Zunahme von Remote-Deals während der Pandemie, wodurch Kapital aus den USA, das über größere Fonds und eine risikofreudigere Mentalität verfügt, leichter zugänglich wird.

Angetrieben durch mehr Kapital, kämpfen europäische Startups mit dem Druck, Rekordinvestitionen und -bewertungen in erfolgreiche Exits umzuwandeln. Diese Sorge treibt sowohl Startup-Führungskräfte, die Aktienoptionen halten, ebenso um wie ihre Investoren. Es sind die typischen Herausforderungen beim schnellen Wachstum, während regulatorische und arbeitsmarktspezifische Einschränkungen bestehen.

"Es ist ein neues Kapitel in der europäischen Tech-Branche, dass Unternehmen sich zutrauen, so schnell zu wachsen und so viel Geld zu verwenden", sagt Christian Hecker. Er ist Mitbegründer und Chef der in Berlin ansässigen Aktienhandels-App Trade Republic Bank, die im Mai eine 900-Millionen-Dollar-Finanzierung der Serie C unter Führung von Sequoia Capital aufnahm.

Hecker sagt auch, dass Beispiele aus den USA, wie aggressiv ein Startup wachsen kann, dabei geholfen haben, die Größe der Finanzierungsrunden und die Bewertung des Unternehmens zu bestimmen. So schoss die Bewertung von Trade Republic von etwa 300 Millionen Dollar in einer Runde im vergangenen Jahr auf 5,3 Milliarden Dollar nach oben, so Hecker. "Die Welt wird flacher, und das hilft Europa überproportional", sagt Andrei Brasoveanu, ein in London ansässiger Partner der Venture-Firma Accel. Einige der europäischen Portfoliounternehmen von Accel waren in der Lage, internationale Kunden zu einem viel früheren Zeitpunkt zu gewinnen, als es in früheren Jahren typisch war, wie Brasoveanu hinzufügt.

Das 2019 gegründete Startup Hopin mit Sitz in London, das virtuelle Veranstaltungen organisiert, verzeichnete beispielsweise im vergangenen Jahr ein schnelles Wachstum. Es gab mehrere Finanzierungsrunden in Höhe von insgesamt 565 Millionen Dollar und einer kürzlichen Bewertung von 5,65 Milliarden Dollar, die in einem von den US-Firmen Andreessen Horowitz und General Catalyst geführten Deal begleitet wurde. "Sie sind ein Remote-Unternehmen, das ein Remote-freundliches Produkt verkauft, sie können von überall an jeden verkaufen", meint Brasoveanu. "Globale Marktführer entstehen schneller und der Wert steigt für sie viel schneller an."

Während die durchschnittlichen Bewertungen in Europa denen in den USA hinterherhinken, beginnen sie in einigen Teilen des Venture-Marktes die US-Pendants zu erreichen und sogar zu übertreffen, wie Daten von Pitchbook zeigen. "Ich habe das Wetter nicht mitgebracht, aber die Bewertungen", scherzt Maria Palma, General Partner bei der Venture-Firma Kindred Capital, die Ende vergangenen Jahres von New York nach London zog. Sie habe in Europa niedrigere Bewertungen als in den USA erwartet, aber sie erlebt nunmehr ähnliche Bewertungen wie in den USA und auch sehr kompetitive Deal-Prozesse.

Die durchschnittlichen Pre-Money-Bewertungen für europäische Angel- und Seed-Runden im ersten Quartal lagen laut Pitchbook bei 14,30 Millionen Euro. In den USA rangierte die durchschnittliche Bewertung für Seed-Runden im gleichen Zeitraum bei 10,1 Millionen Dollar. In den späten Phasen stiegen die durchschnittlichen Pre-Money-Bewertungen für europäische Startups auf 628,8 Millionen Euro, verglichen mit 1,03 Milliarden Dollar für ihre US-Pendants.

Es gibt immer noch Einschränkungen bei der Skalierung europäischer Startups. "Tech floriert in Europa, aber oft trotz der politischen und regulatorischen Bedingungen für den Betrieb in Europa, nicht wegen dieser", klagt Wehmeier von Atomico. Laut Hecker von Trade Republic ist die Größe des Talentpools in der europäischen Tech-Wirtschaft eine "natürliche Begrenzung" für das Wachstum des Marktes. Es könne einfach schwierig sein, Arbeitskräfte mit Erfahrung in der Arbeit in Startups zu finden.

Es gibt auch Arbeitsmarktfaktoren, die die Jobmobilität erschweren. Im Vergleich zu den USA kann es zum Beispiel lange dauern, bis ein neuer Mitarbeiter sein vorheriges Unternehmen verlässt, so Hecker. Ein weiteres Problem sei die höhere Besteuerung von Aktienvergütungen im Vergleich zu den USA. "Das macht sie für externe Talente uninteressant. Das ist ein Nachteil gegenüber den US-Amerikanern." Hecker meint auch, dass aufstrebende Industrien in Europa einer genaueren Prüfung durch die Behörden ausgesetzt seien als in den USA, was zu Unsicherheiten für schnell wachsende Unternehmen führe. "Die natürliche Reaktion der Regierung ist Regulierung, und das ist ein Hindernis", ärgert sich Hecker.

Dennoch konnte Trade Republic seine Mitarbeiterzahl von etwa 100 vor einem Jahr auf 400 erhöhen, so der CEO. Das Unternehmen sieht einen großen, unerschlossenen Markt von neuen Einzelinvestoren, die begierig darauf sind, den Aktienmarkt anzuzapfen, fügte er hinzu. Europäische Startups werden die großen Finanzierungsrunden und steigenden Bewertungen auf dem Niveau der USA rechtfertigen müssen, in einem Markt, in dem die Exits kleiner und seltener sind.

Insgesamt betrug die Marktkapitalisierung europäischer Technologieunternehmen Stand Ende Oktober 2020 mit etwa 1,25 Billionen Dollar nur einen Bruchteil der US-Tech-Marktkapitalisierung von 12,75 Billionen Dollar, so der State of European Tech 2020. "Es gibt immer noch viele Herausforderungen, nicht zuletzt die Tatsache, dass Europa in einem globalen Technologiemarkt, der alles andere als stillsteht, von weit hinten kommt", erläutert Wehmeier von Atomico.

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June 23, 2021 10:57 ET (14:57 GMT)