Von Tom Fairless

FRANKFURT (Dow Jones)--Europas Antwort auf die jüngste Wirtschaftskrise lautet noch mehr Staat. Angesichts der steigenden Inflation und der Energiekrise, die durch Russlands Angriff auf die Ukraine ausgelöst wurde, schaffen europäische Politiker Hunderttausende von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor, garantieren Kredite für Unternehmen, subventionieren Energierechnungen und investieren in Infrastruktur, Verteidigung sowie Schlüsselindustrien.

Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) werden die Ausgaben der Regierungen der Eurozone in diesem Jahr voraussichtlich 51 Prozent der Wirtschaftsleistung der Region erreichen und damit rund 4 Prozentpunkte höher liegen als 2019. In Deutschland, Frankreich und Italien ist der Anteil der Staatsausgaben an der Wirtschaftsleistung so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr, die Pandemiejahre 2020 und 2021 ausgenommen.


US-Staatsausgaben wieder auf Weg nach unten 

In den USA kletterten die Staatsausgaben im Jahr 2020, auf dem Höhepunkt der Covid-19-Pandemie, auf 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), sind aber seitdem auf 37 Prozent des BIP und damit fast auf das Vorkrisenniveau gefallen.

Die staatlichen Eingriffe sind ein Grund dafür, dass sich die europäische Wirtschaft in diesem Jahr relativ gut gehalten hat. So wuchs die Wirtschaft im Euroraum in den drei Monaten bis September mit einer auf das Jahr hochgerechneten Rate von 0,7 Prozent und zeigte sich damit widerstandsfähig gegenüber den schweren Schocks, die ihre Energiemärkte erschütterten.

Sogar Deutschland, dessen energiehungrige Industrieunternehmen durch den jüngsten Anstieg der Gaspreise besonders gefährdet sind, verzeichnete ein bescheidenes Wachstum. Während die schwachen Staatsausgaben in diesem Jahr das Wachstum in den USA bremsten, stützten die hohen nach Angaben von JP Morgan das Plus in der Eurozone.


Der Staat beschäftigt in Europa immer mehr Mitarbeiter 

Ein Bereich, in dem sich die Staatsausgaben am unmittelbarsten bemerkbar machen, ist der Arbeitsmarkt. Den Daten der Europäischen Zentralbank (EZB) zufolge ist die Beschäftigung im öffentlichen Sektor in der Eurozone seit 2019 um 4 Prozent angewachsen, während die Zahl der Arbeitsplätze bei Dienstleistungen nur um 1 Prozent zunahm. Zugleich bröckelte die Zahl der Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe um 1 Prozent ab.

Jeder vierte Arbeitnehmer in der Eurozone war im vergangenen Jahr beim Staat beschäftigt. In Spanien hat der öffentliche Sektor in den drei Monaten bis September rund 52.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, mehr als doppelt so viele wie in der Privatwirtschaft, so die nationale Statistikbehörde.

In den USA ist die Zahl der Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst seit Anfang 2020 um mehr als 2 Prozent gesunken, während die Jobzahl in der Privatwirtschaft um 1 Prozent zulegte, wie aus Daten des Amts für Arbeitsmarktstatistik hervorgeht.

In den USA "gibt es eine Gegenlogik, dass die Regierung während der Pandemie so viel Geld ausgegeben hat, dass wir jetzt sparen müssen", merkt Jacob Funk Kirkegaard vom Peterson Institute for International Economics, einer Denkfabrik in Washington, an.


Diesmal wird der Gürtel nicht enger geschnallt 

Nach der Finanzkrise Ende der 2000er Jahre und der anschließenden Schuldenkrise in der Eurozone habe auch Europa den Gürtel enger geschnallt. Aber diesmal ist das nicht der Fall, obwohl steigende Zinssätze und Marktturbulenzen es für die Regierungen schwieriger machen, die Staatsverschuldung in die Höhe zu treiben.

Im Moment verzögert Europa den Wirtschaftsabschwung und mildert ihn ab, was kurzfristig sogar zur Eindämmung der Inflation beitragen könnte. Ökonomen befürchten jedoch, dass dieser Ansatz auch Risiken birgt. Anders als während der Finanzkrise, der Krise der Eurozone und der Pandemie sind die ausgabefreudigen Regierungen auf Kollisionskurs mit der EZB.

Diese hat die Zinssätze so schnell wie nie zuvor erhöht, um die Inflation abzukühlen. Die Inflationsrate in der Eurozone schnellte im Oktober auf 10,7 Prozent hoch und erreichte damit einen neuen Höchststand, während sich der Preisanstieg in den USA im September auf 8,2 Prozent verlangsamte.


IWF fordert fiskalische Enthaltsamkeit 

Der IWF forderte Europa vergangenen Monat auf, die Staatsausgaben zu kürzen, um die Zentralbanken im Kampf gegen die Inflation zu unterstützen und die leeren Staatskassen wieder aufzufüllen. "Es ist klar, dass es Spielraum gibt, um gefährdete Menschen zu geringeren Kosten zu unterstützen", sagt IWF-Direktor Alfred Kammer.

In ganz Europa haben die Regierungen in letzter Zeit groß angelegte Kreditgarantieprogramme wiederbelebt, um Unternehmen zu unterstützen, die durch die Folgen des russischen Krieges geschädigt wurden, so Daten von Bruegel, einer in Brüssel ansässigen Denkfabrik.

In Italien wird einem Bericht des IWF vom August zufolge ein Drittel aller ausstehenden Unternehmenskredite durch die Regierung abgesichert. Während eine solche umfassende Unterstützung für Unternehmen während der Pandemie sinnvoll war, ist der Fall jetzt weniger klar, da die Veränderungen in der Energieversorgung sich nicht so schnell ändern, meint Nicolas Veron, der bei Bruegel und am Peterson Institute for International Economics arbeitet.

Der Aufschwung in Europa verlief langsamer als in den USA, und die Investitionen waren schwächer. Die Wirtschaftsleistung der Eurozone dürfte in diesem Jahr, gemessen in Dollar, um etwa 4 Prozent größer sein als 2019, während sie in den USA laut IWF-Daten um etwa 17 Prozent wuchs.

Die Investitionen in der Eurozone kletterten vergangenes Jahr um 4 Prozent und dieses Jahr um 3 Prozent, während in den USA die Ausrüstungsinvestitionen laut JP Morgan um 10 bzw 5 Prozent zulegten.


Wähler goutieren Unterstützungsversprechen 

Dennoch erweisen sich staatliche Eingriffe in Europa als populär. Von Berlin über Paris bis Rom haben die Wähler kürzlich Regierungen gewählt, die mehr Unterstützung versprochen haben. Während seiner Wiederwahlkampagne in diesem Jahr versprach der französische Präsident Emmanuel Macron, in den nächsten fünf Jahren zu 100 Prozent französische Lieferketten für Elektroautos, Offshore-Windparks und Solarzellen aufzubauen.

In Italien plant die neue Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, das Haushaltsdefizit im nächsten Jahr auf 4,5 Prozent des BIP aufzustocken. Die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP ist von 135 Prozent im Jahr 2019 auf 150 Prozent gestiegen.


EU setzt eigene Defizitregeln aus 

Normalerweise verlangt die EU von den Regierungen, dass sie das Defizit unter 3 Prozent des BIP halten. Sie hat diese Regeln jedoch vier Jahre in Folge bis mindestens Ende nächsten Jahres ausgesetzt, um den Regierungen mehr Ausgabenspielraum zu geben.

In Deutschland wählten die Wähler Ende vergangenen Jahres eine Koalition mit den Sozialdemokraten im Zentrum, die versprachen, viel Geld auszugeben, um die Industrie umzugestalten. "Wir alle wissen, dass wir an der Schwelle zu einer zweiten industriellen Revolution stehen", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz im Juni vor dem Bundestag, als er neue Ausgabenpläne im Wert von 200 Milliarden Euro vorstellte.

Die Verlagerung hin zu einem großen Staatsapparat wirft unangenehme Parallelen zu den 1970er Jahren auf, als die fortgeschrittenen Volkswirtschaften die Staatsausgaben und die Verschuldung in einer Zeit drastisch erhöhten, die von einer hohen und hartnäckigen Inflation begleitet wurde.


Warnungen von Lagarde 

Angesichts von Versorgungsengpässen können hohe Staatsausgaben "den Inflationsdruck verschärfen und die Zentralbank dazu zwingen, die Politik stärker zu straffen, als es sonst notwendig wäre", warnt EZB-Präsidentin Christine Lagarde bereits. Die EZB hat ihren Leitzins seit Juli um 2 Prozentpunkte auf 1,5 Prozent und damit auf den höchsten Stand seit über einem Jahrzehnt angehoben.

Das setzt verschuldete europäische Länder wie Italien unter Druck, dessen zehnjährige Anleiherendite von 0,9 Prozent vor einem Jahr auf etwa 4,5 Prozent sprang. Auch auf politischer Ebene führt die Tatsache, dass sich reichere Länder wie Deutschland höhere Subventionen leisten können, zu Spannungen in der europäischen Währungsunion.


Sorgen vor einer vertieften und langen Rezession 

Während die Prognosen über die Tiefe und Dauer des prognostizierten Abschwungs weit auseinandergehen, könnte eine besonders tiefe Rezession die öffentlichen Kassen in Europa noch stärker belasten. Zu einer starken Rezession kommt es womöglich, wenn ein kalter Winter Energierationierungen auslöst und Unternehmen auf dem ganzen Kontinent zur Schließung zwingt.

"Das Problem der Schuldentragfähigkeit schien theoretisch zu sein, als die Zinssätze bei null lagen", aber die Diskussion komme wieder auf, da die Zinssätze steigen, sagt Direktor Gaurav Ganguly von Moody's.

Die britische Regierung hat im Vormonat ein Programm von Steuersenkungen gestrichen, nachdem die Investoren erschrocken waren. "Was in Großbritannien passiert ist, zeigt, dass die Märkte auf eine nachhaltige Politik achten", sagt Klaas Knot, der als Chef der niederländischen Zentralbank im EZB-Rat sitzt. Er warnt, dass die Regierungen eine solide Ausgabenpolitik verfolgen und ihre Haushaltsdefizite an das veränderte Zinsumfeld anpassen müssten.

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November 09, 2022 10:28 ET (15:28 GMT)