Von James Mackintosh

DAVOS (Dow Jones)--Auf dem Weltwirtschaftsforum (WEF) in der Schweiz versammeln sich die Eliten dieses Globus' für gewöhnlich, um über Märkte und Wirtschaft zu diskutieren. Der "Davos-Konsens" diente dabei oft als nützlicher Kontraindikator, da er häufig völlig falsch lag. Doch in diesem Jahr gibt es keinen Konsens, was die unruhige Lage an den Märkten anbelangt. Der S&P 500 befindet sich fast in einem Bärenmarkt. Und dennoch gibt es keine Einigkeit darüber, ob eine Rezession bevorsteht. Das Problem, wie viele Führungskräfte es beschreiben: Die aktuellen Geschäfte laufen zwar gut, aber die bevorstehenden Schwierigkeiten sind nur zu offensichtlich.

"Hier sind alle pessimistisch", sagt etwa José Viñals, Chairman von Standard Chartered. "Aber wenn ich sie frage, wie ihre Geschäfte laufen, ist das Bild wunderbar. Es kann sein, dass die geschäftliche Realität die makropolitische Realität einholt." Diese Zweiteilung erklärt, warum die führenden Vertreter der Wirtschaft und des Bankwesens auf dem Elitetreffen in den Bergen so unterschiedliche Ansichten haben. Diejenigen, die sich auf die guten Daten zu den Verbraucherausgaben konzentrieren - darunter der Chef der Bank of America, Brian Moynihan, - weisen den Gedanken an eine Rezession weit von sich. Dafür sind diejenigen, die auf die Gewitterwolken in der Ferne blicken, wirklich besorgt.

George Oliver, Vorsitzender und CEO des Heizungs- und Klimaanlagenherstellers Johnson Controls, ist typisch für das positive aktuelle Geschäft. "Uns geht es sehr gut", berichtet er. "Wir sehen eine robuste Nachfrage ... wir beobachten das natürlich genau."


   Analysten heben Prognosen tendenziell weiter an 

Auf der anderen Seite stehen eine Reihe von Finanziers und Führungskräften, die sich auf Kriege, Energie- und Nahrungsmittelkrisen, die Neuordnung der Geopolitik und den Rückzug aus der Globalisierung konzentrieren. Manager Douglas Sieg vom Fondsmanager Lord, Abbett & Co, sagt: "Es ist erstaunlich, dass sich die Welt vor sechs Monaten noch nicht so kompliziert anfühlte und die vergangenen drei Monate auf einmal nur noch aus großen Problemen bestanden."

Im Moment konzentriert sich die Wall Street mehr auf die guten aktuellen Ergebnisse als auf die Bedrohungen. Die Prognosen für die Gewinne des S&P 500 in diesem und im nächsten Jahr sind in diesem Jahr gestiegen, trotz des ganzen Geredes über eine mögliche Rezession. Die Analysten heben die Prognosen immer noch eher an als dass sie sie senken.

Es stimmt, dass die Bewertungen gesunken sind - sehr sogar -, aber das ist nicht in erster Linie auf ein höheres Rezessionsrisiko zurückzuführen. Vielmehr spiegelt sich darin die Erwartung weit höherer Zinsen wider. Die Bewertungsmultiplikatoren von teuren Aktien, die gut aufgestellt sind, um einer wirtschaftlichen Schwäche zu trotzen, sind viel stärker gesunken als die von Unternehmen, die in der Regel von Anfang an billiger waren und von einer brummenden Wirtschaft profitieren. Der Markt scheint davon auszugehen, dass die Pläne der US-Notenbank Fed, um die Lieferketten- und Energieprobleme zu entschärfen, die Inflation nach einigen Jahren wieder in die Nähe des 2-Prozent-Ziels bringen werden. Dafür muss Fed-Chef Jerome Powell gar nicht zu den rezessionsauslösenden extremen Zinserhöhungen seines Vorgängers Paul Volcker im Jahr 1980 greifen. Aber der Konsens ist nicht sehr stark, und große Investoren sind sich auf beiden Seiten uneinig.


   Hohe Volatilität an den Märkten 

Chef-Investor Scott Minerd von Guggenheim Partners ist der Meinung, dass das, was die Federal Reserve plant, bereits zu viel sei und dem Wachstum schaden werde. "Die Fed ist zu aggressiv, aber es gibt keinen politischen Willen, davon abzulassen", klagt er. Wenn sie aufhöre, Geld zu drucken, "sollte die Inflation langsam von selbst abebben". Sollte seine Theorie stimmen, würde die Fed die Straffung der Geldpolitik früher als erwartet beenden, sobald die Inflation zurückgeht, und Anleihen sich wieder zu einer attraktiven Anlage mausern. Der Hedge-Fonds-Riese Bridgewater vertritt jedoch die gegenteilige Ansicht. "Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Inflation selbst verstärken wird", warnt Co-Chefinvestor Bob Prince. "Die Chancen sehen so aus, dass die Fed nicht genug tun und zu wenig und zu spät tun wird, wie es bisher der Fall war."

In gewissem Maße zeigen sich die Unterschiede als tiefe Unsicherheit an den Märkten, was den Aktien schadet. Der Vix-Index für die implizite Volatilität des S&P 500 liegt seit fünf Wochen über 25, was seit 2020 und der Pandemie-Unsicherheit nicht mehr der Fall war, und davor 2011, als die Fed ihre ungewöhnliche Lockerungspolitik Operation Twist einläutete. Derweil bleibt der Vix jedoch weit unter dem Niveau einer echten Panik.

Im Idealfall kann die Rezession hinausgezögert werden oder zumindest mild ausfallen, da die starken Verbraucherausgaben durch Vollbeschäftigung und die Bereitschaft der Banken zur Kreditvergabe gestützt werden. Dabei könnte helfen, dass der Druck auf die Energie- und Lieferketten nachlässt und die Maßnahmen der Fed etwas von der Hitze nehmen. Das ist jedoch ein zunehmend schmaler Grat, auf dem sich die Wirtschaft bewegt. Wenn es schief geht, gibt es viel Spielraum für einen Einbruch der Gewinnschätzungen und einen starken Rückgang der Aktien.

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May 27, 2022 09:27 ET (13:27 GMT)