'Der geschichtlichen Wahrheit müssen wir uns stellen', forderte 1999 der damalige Bundesinnenminister Otto Schily bei einer Festveranstaltung des Bundes der Vertriebenen. Er mahnte: 'Wir dürfen den Blick nicht um der einen oder der anderen politischen Bequemlichkeit willen oder aus dem einen oder anderen politischen Interesse (…) von der Wahrheit abwenden oder ihr auszuweichen versuchen, weil das nicht in unser vorgefasstes Wahrnehmungsmuster passt.'

Mit der heutigen Eröffnung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung stellt Deutschland sich einer lange zu wenig wahrgenommenen historischen Wahrheit: dem unermesslichen und millionenfachen Leid in Folge von Flucht und Vertreibung im und nach dem von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg. Es ist eine Wahrheit, die sperrig und politisch unbequem ist und die lange keinen Platz im kollektiven Erinnern hatte. Denn das Leid deutscher Frauen, Männer und Kinder steht in engem Zusammenhang mit den barbarischen Vernichtungsfeldzügen der Nationalsozialisten und widersetzt sich damit der Einordnung in bestehende Wahrnehmungsmuster. Deshalb wurde über viele Jahre um eine angemessene Form des Gedenkens gerungen, ja teils erbittert gestritten - nicht zuletzt zwischen den politischen Lagern. Umso mehr erfüllt es mich mit Dankbarkeit, dass mit dem heutigen Eröffnungstag endlich jenes 'sichtbare Zeichen gegen Flucht und Vertreibung' gesetzt ist, auf das die mittlerweile hochbetagten Betroffenen und ihre Nachkommen so lange gewartet haben.

Es ist dem Engagement vieler Beteiligter zu verdanken, dass die Sensibilität für die Schicksale der Deutschen, die vor, im und nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Zunächst waren es die Vertriebenen-Verbände, die dafür geworben und ein 'sichtbares Zeichen' angeregt haben. Im Koalitionsvertrag von 2005 bekannte sich die damalige Große Koalition zum Anliegen, der Erinnerung an Flucht und Vertreibung mit diesem 'sichtbaren Zeichen' Raum im gemeinsamen Gedächtnis zu geben - unter Ihrer Führung, verehrte Frau Bundeskanzlerin, die Sie Ihre Unterstützung für dieses Vorhabens immer wieder deutlich zum Ausdruck gebracht haben.

Du, lieber Bernd Neumann, hast Dich als mein Vorgänger im Amt behutsam und beharrlich - und letztlich mit Erfolg - darum bemüht, das Vertrauen unserer östlichen Nachbarländer zu gewinnen, in denen dieses Vorhaben oft Verunsicherung, Irritation und Ängste schürte. Mit dem 2008 im Deutschen Bundestag verabschiedeten Errichtungsgesetz haben die Parlamentarier der Stiftung deshalb ins Stammbuch geschrieben, dass die Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen in den Kontext der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik eingebettet werden muss. In diesem Bewusstsein haben die Mitglieder des Stiftungsrates über viele Jahre konstruktiv und engagiert die Weichen für das Schließen einer für die Betroffenen schmerzhaften Lücke in der Erinnerungskultur gestellt.

Dass das Dokumentationszentrum nun nach mehr als zehnjähriger Bau- und Sanierungszeit viel mehr ist als Vergangenheitsbewältigung, dass es im Geiste der Versöhnung in die Zukunft eines geeinten Europas weist, ist zum einen den Fachleuten aus ganz Europa und aus den USA im wissenschaftlichen Beraterkreis zu verdanken. Einige von Ihnen sind heute unter uns: seien auch Sie herzlich willkommen! Ihre unterschiedlichen Perspektiven waren ein enormer Gewinn für die Stiftungsarbeit. Zum anderen haben Sie, liebe Frau Dr. Bavendamm, und Ihr Team das zukunftsweisende Profil des Dokumentationszentrums als Lernort geschärft, indem Sie die Darstellung der Zwangsmigrationen des 20. Jahrhunderts in einen historischen Überblick eingebettet und damit auch Bezüge zu den Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart hergestellt haben.

Damit das Dokumentationszentrum seine Stärken als Ort der Bildung und Vermittlung voll entfalten und möglichst viele Besucherinnen und Besucher aus aller Welt für Ursachen und Folgen des Heimatverlusts sensibilisieren kann, ist der Eintritt frei. Das war mir ein Herzensanliegen, und ich freue mich, dass auch das gelungen ist. Vor allem aber bin ich froh und dankbar, dass individuelle Leidensgeschichten von Heimatverlust und Entwurzelung in unmittelbarer Nähe und in architektonisch sichtbarem Bezug zu anderen historischen Lern- und Gedenkorten, etwa zur Topographie des Terrors und zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas, sowohl Raum als auch einen historisch wie politisch angemessenen Platz bekommen. Ich danke allen, die das durch ihr Engagement, ihre Expertise und ihr Bemühen um Verständigung ermöglicht haben.

Es ist Teil der Identität Europas, dass unterschiedliche Erinnerungen an das wechselvolle 20. Jahrhundert um Gehör und Anerkennung ringen. Diese unterschiedlichen Erinnerungen sind im Bezug zu den Verheerungen, die Deutschland über Europa gebracht hat, miteinander verwachsen, und ergeben doch kein homogenes Narrativ, kein gemeinsames Gedächtnis. Eine europäische Erinnerungskultur kann deshalb nur darin bestehen, der Vielstimmigkeit der Erinnerungen Gehör zu verschaffen und im Sinne eines Erinnerungsaustauschs zu einer gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, zu Verstehen und Verständigung zu finden. Möge das Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung dazu beitragen und seine Besucherinnen und Besucher in diesem Sinne inspirieren!

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