LONDON (dpa-AFX) - Die durch die Brexit-Querelen stark beanspruchten Beziehungen zwischen Berlin und London sind nach Ansicht von Experten nicht zuletzt aufgrund des Kriegs in der Ukraine auf dem Weg der Besserung. Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Freitag in der Downing Street vom britischen Premier Boris Johnson empfangen wird, dürfte daher mehr das Einende als das Trennende im Mittelpunkt stehen, glaubt etwa die deutsche Historikerin Helene von Bismarck.

"Dieser entsetzliche Krieg bietet in gewisser Hinsicht Gelegenheit für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa - und auch Deutschland", sagte die Großbritannien-Expertin der Deutschen Presse-Agentur.

Man könne zwar keineswegs davon ausgehen, dass der durch die Jahre der Brexit-Querelen entstandene Schaden über Nacht repariert werden könne, aber es zeichne sich ein Weg nach vorne ab, der noch vor kurzem nicht abzusehen war. Sie sei daher vorsichtig hoffnungsvoll, dass sich das Verhältnis entspanne und man zu einer pragmatischen Zusammenarbeit von Fall zu Fall komme.

Aus britischen Regierungskreisen hieß es vor dem Scholz-Besuch, die Krise in der Ukraine habe dazu geführt, dass bei den bilateralen Gesprächen der Turbo-Gang eingelegt wurde. Auch die Kontakte mit der EU seien intensiviert worden.

In den Augen des britischen Deutschland- und Europa-Experten Alexander Clarkson, der am King's College London lehrt, ist auch hilfreich, dass die Bedeutung des Brexits als innenpolitisches Thema in Großbritannien zunehmend verschwindet. Auch das mache Hoffnung auf eine Verbesserung des Verhältnisses. "Ich denke, die Vorstellung, dass der Brexit in der britischen Politik große Wählerschichten mobilisiert, ist auf dem absteigenden Ast und das bedeutet, es wird mehr zu einer technischen Angelegenheit", sagte er im dpa-Gespräch.

Das Thema Brexit sei eng mit der Persönlichkeit Boris Johnsons verknüpft, der aufgrund seiner relativ schwachen Position in der eigenen Partei nicht viel Raum zum Manövrieren habe. Doch hinter den Kulissen gebe es bereits einen überparteilichen Konsens, der auf eine sehr viel pragmatischere Beziehung zur EU in einer Ära nach Johnson hindeute, glaubt Clarkson. Das mache sich auch jetzt schon bemerkbar.

Trotz des Drangs Johnsons, sich zu profilieren, dürfe das Engagement des britischen Premiers für die Ukraine auch nicht als politisches Theater abgetan werden, warnt von Bismarck. Johnson habe sich erfolgreich als treibende Kraft in Europa etabliert, wenn es um Waffenlieferungen an die Ukraine und Sanktionen gegen Moskau geht. Ihrer Meinung nach geht es den Briten nun darum, Deutschland mit einer Charmeoffensive dazu zu bewegen, auch mehr zu tun.

Streitpunkte werde es aber weiterhin geben, so die Historikerin - beispielsweise bei der Frage um das Nordirland-Protokoll. London werde wohl weiterhin versuchen, das Abkommen zu untergraben./cmy/DP/zb