KIEW (dpa-AFX) - Angesichts einer erwarteten Großoffensive Russlands im Osten der Ukraine stellt die EU weitere 500 Millionen Euro für Waffenlieferungen an Kiew bereit. In den USA gibt es nach Medienberichten Planungen für ein ähnliches Hilfspaket. US-Präsident Joe Biden hatte Russland zuvor erstmals "Völkermord" vorgeworfen. In Deutschland sorgt die kurzfristige Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier durch Kiew für Empörung.

Hunderte Millionen für Waffen

Die Freigabe von weiteren 500 Millionen Euro für die Lieferung von Waffen und Ausrüstung an die ukrainischen Streitkräfte kündigte der Rat der EU-Mitgliedssaaten in Brüssel an. Damit erhöhen sich die zur Verfügung stehenden Mittel auf 1,5 Milliarden Euro.

"Da sich Russland auf eine Offensive im Osten der Ukraine vorbereitet, ist es entscheidend, dass wir unsere militärische Unterstützung für die Ukraine fortsetzen und verstärken, um ihr Gebiet und ihre Bevölkerung zu verteidigen und weiteres Leid zu verhindern", sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Russland wirft dem Westen vor, mit den Waffenlieferungen den Konflikt zu verschärfen.

Biden spricht von Völkermord

Biden zeigte sich entsetzt über Kriegsgräuel in der Ukraine und warf Moskau erstmals "Völkermord" vor. Die Beweise dafür häuften sich, sagte Biden in der Nacht zum Mittwoch deutscher Zeit. "Ich habe es Völkermord genannt, denn es wird klarer und klarer, dass (der russische Präsident Wladimir) Putin einfach versucht, die Idee, überhaupt Ukrainer sein zu können, einfach auszuradieren", sagte Biden im Bundesstaat Iowa. Letztlich müssten aber Juristen auf internationaler Ebene entscheiden, ob es sich um Genozid handele. Russland wies den Vorwurf zurück. "Wir halten Versuche, die Situation so zu verdrehen, für inakzeptabel", meinte Kremlsprecher Dmitri Peskow.

Irritation über unerwünschten Steinmeier

Der kurzfristig abgesagte Besuch von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew sorgt in Deutschland parteiübergreifend für Empörung. Bundeskanzler Olaf Scholz nannte die Entscheidung der Ukraine "etwas irritierend, um es höflich zu sagen". Der SPD-Politiker sagte im rbb: "Der Bundespräsident wäre gern gekommen." Er sei das gerade wiedergewählte Staatsoberhaupt. "Und deshalb wäre es auch gut gewesen, ihn zu empfangen."

Steinmeier wollte zusammen mit den Staatspräsidenten Polens, Lettlands, Litauens und Estlands nach Kiew fahren. Die vier anderen Präsidenten trafen am Mittwoch ohne ihren deutschen Kollegen per Bahn zu Gesprächen mit Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew ein.

Außenministerin Annalena Baerbock sagte, sie hätte die Reise Steinmeiers "für sinnvoll gehalten". Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki schließt eine Fahrt von Kanzler Scholz nach Kiew vorerst aus. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kanzler einer von der FDP mitgetragenen Regierung in ein Land reist, das das das Staatsoberhaupt unseres Landes zur unerwünschten Person erklärt", sagte Kubicki der Deutschen Presse-Agentur. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sprach ebenso von einem "Affront" wie Linksfraktionschef Dietmar Bartsch.

Raketen auf Mariupol

Um Mariupol wurde nach Darstellung beider Seiten weiter heftig gekämpft. Das ukrainische Militär berichtete von neuen russischen Luftangriffen auf die seit Wochen belagerte und inzwischen weitgehend zerstörte südostukrainische Stadt. Weiter hieß es zudem, die ostukrainische Großstadt Charkiw sei von russischer Artillerie beschossen worden.

Das russische Verteidigungsministerium meldete, in Mariupol hätten sich über 1000 ukrainische Soldaten ergeben. Zudem hieß es, es habe neue Raketenangriffe von russischen Flugzeugen und Kriegsschiffen aus gegeben. Die Angaben der Kriegsparteien sind kaum unabhängig zu überprüfen.

Russland hatte das Nachbarland vor knapp sieben Wochen angegriffen. Um sich für die Offensive im Osten neu zu formieren, hat sich das russische Militär inzwischen aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew zurückgezogen. Dort wurden anschließend großflächige Zerstörungen, Massengräber und Leichen in den Straßen gefunden.

"Gegen das Böse behaupten"

Selenskyj lobte auf Twitter Bidens Völkermord-Vorwurf: "Die Dinge beim Namen zu nennen ist wichtig, wenn man sich gegen das Böse behaupten will." In einer Videoansprache verglich Selenskyj die russische Belagerung von Mariupol mit der Blockade von Leningrad (heute St. Petersburg) durch die deutsche Wehrmacht zwischen 1941 und 1944, die als eines der schlimmsten NS-Kriegsverbrechen gilt.

Die stellvertretende ukrainische Regierungschefin Olha Stefanischyna berichtete in einer Rede vor Parlamentsabgeordneten in Italien von schlimmsten Kriegsverbrechen in ihrem Land. In einer Videoschalte erzählte sie zum Teil sehr detailliert davon, wie russische Soldaten ukrainische Frauen vor den Augen ihrer Kinder vergewaltigten und Kinder vor den Augen der oft gefesselten Mütter.

Regierung als "Missgeburten" beschimpft

Der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew hat erbost auf die Festnahme des prorussischen Politikers Viktor Medwedtschuk, einen Vertrauten Putins, in der Ukraine reagiert und schwere Vorwürfe gegen Kiew erhoben. "Vereinzelte Missgeburten, die sich selbst als "ukrainische Regierung" bezeichnen, erklären, dass sie ein Geständnis aus Viktor Medwedtschuk herausprügeln, ihn "schnell und gerecht" verurteilen und dann gegen Gefangene austauschen wollen", schrieb Medwedew.

Finnen zieht es in die Nato

Russlands Nachbarland Finnland rückt derweil einer Entscheidung über einen Nato-Beitritt zügig näher. Ministerpräsidentin Sanna Marin sagte am Mittwoch bei einem Besuch in Stockholm, sie rechne aber damit, dass ein finnischer Entschluss "innerhalb von Wochen, nicht innerhalb von Monaten" stehen werde. Russlands Einmarsch in die Ukraine habe alles verändert.

"Jetzt muss das Zeug da runter"

In Deutschland steigt die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine weiter, allerdings nicht mehr so schnell wie in den ersten Wochen des Kriegs. Bis Mittwoch stellte die Bundespolizei 339 655 Geflüchtete fest, wie das Bundesinnenministerium auf Twitter mitteilte. Das sind etwa 4000 mehr als am Vortag.

Topthema hier für die Ampel-Koalition ist derzeit eher, wie die Ukraine stärker unterstützt werden kann. Die Ukraine fordert unter anderem Kampfpanzer, Artilleriegeschütze und Luftabwehrsysteme. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) warb auf ProSieben/SAT.1 für schnelle Waffenlieferungen: "Jetzt muss das Zeug da runter. Und so handeln wir auch."

Wachstum trotz Embargos?

Führende Wirtschaftsforschungsinstitute senkten am Mittwoch ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr von 4,8 Prozent auf nur noch 2,7 Prozent. Sie sagten voraus, dass selbst bei einer sofortigen Unterbrechung russischer Gaslieferungen die Wirtschaftsleistung in diesem Jahr noch um 1,9 Prozent zunehmen würde. Für nächstes Jahr wäre laut Prognose eine Rezession zu befürchten.

Sorge herrscht auch, dass der Krieg die ukrainische Landwirtschaft lähmt, die zu den größten Getreideproduzenten der Welt gehört. Die ukrainische Regierung betonte aber in der Nacht, ungeachtet der Kämpfe habe in fast allen Landesteilen die Frühjahrsaussaat begonnen./vsr/DP/men